
Andreas Hermann (Paul), Erica Eloff (Marie/Marietta). Alle Fotos: Landestheater Linz / Reinhard Winkler
LINZ / Musiktheater: DIE TOTE STADT
20. Oktober 2022 (Premiere war am 24.9.22)
Von Manfred A. Schmid
Ob Oper, Operette oder Musical, das Linzer Musiktheater am Volksgarten sorgt so oft für überraschend gute Neuproduktionen, dass das längst keine Überraschung, sondern fast schon die Regel zu sein scheint. Diesmal ist es Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt, in der Inszenierung von Andreas Baesler, die beträchtliches Aufsehen erregt und überregionales Echo ausgelöst hat.
Das Psychodrama um Paul, der sich von seiner verstorbenen Frau Marie nicht lösen kann, in der Tänzerin Marietta ihre Wiedergängerin gefunden zu haben glaubt und diese, als er in eine sexuelle Anhängigkeit gerät, schließlich erwürgt und dann in der Toten das perfekte Ebenbild seiner Frau erkennen will, inszeniert Andreas Baesler als Psychothriller à la Alfred Hitchcocks Vertigo. Dieser Eingriff beschränkt sich allerdings nur auf die Rahmenhandlung, wo im ersten Bild im Hintergrund ein Mann, vermutlich ein Kriminalkommissar, das Geschehen beobachtet und Notizen macht, als gälte es, ein Verbrechen aufzuklären. Erst am Schluss tritt er wieder in Erscheinung: Der Fall ist gelöst. Der dem Wahnsinn nahe Paul – als Schauplatz der Handlung dient ein Zimmer in einem Krankenhaus (Bühne Harald B. Thor) – ist als Mörder seiner Frau Marie entlarvt. Marietta hat nur dazu gedient, ihn dazu zu bringen, in seiner Fantasie den Mord an Marie an ihr erneut zu vollziehen und so den Anfangsverdacht zu bestätigen. Ansonsten deutet nur ein Fenster zur Überwachung der Vorgänge darauf hin, dass hier eine Untersuchung im Gang ist, außerdem registriert man zunächst einmal ein mit roter Farbe an die Wand gemaltes M, das später zu MÖRDER ergänzt wird. Der Ablauf des Geschehens bleibt von dieser Rahmenhandlung aber weitgehend unberührt.
Die Deutung Baeslers, die sich auf die Originalvorlage von Georges Rodenbach stützt, wird durch den im Programmheft enthaltenen Aufsatz „Gefährliche Ähnlichkeiten“ von Elisabeth Bronfen psychologisch als durchaus möglich bestätigt. Das Eindringen von Pauls Fantasiewelt in die Wirklichkeit wird durch das Herunterlassen eines Schleier-Vorhangs kenntlich gemacht, ebenso gelungen ist der Auftritt von Mariettas Truppe der Komödianten und Tänzer (Choreographie Yuko Harada). Ganz großes Kino ist dann die Pauls Verhaltenen stark beeinflussende pompöse österliche Prozession, die zunächst als riesengroße, bedrohlich wirkende Videoprojektion – in Grau – die Bühne ausfüllt und dann auch tatsächlich- in Farbe – durch den Raum fortgesetzt wird (Video Philipp Ludwig Stangl).

Manuela Leonhartsberger (Brigitta), Andreas Hermann (Paul), Martin Achrainer (Fank).
Die zuweilen fast nervenaufreibende Spannung entsteht einzig und allein aus der ab- und hintergründigen, düsteren wie auch beklemmenden Handlung und der genialen Musik Korngolds, die hier schon seine später so effektvolle Filmmusik erahnen lässt und die Oper selbst zu einem Psychothriller macht. Die psychologische Ausdeutung der Charaktere gelingt dank seiner meisterhaften Instrumentationskunst ganz vorzüglich. Ingmar Beck am Pult des Bruckner Orchesters Linz ist ein einfühlsamer musikalischer Leiter und bringt die schwelgerische, von der schwülen, dekadenten, hysterischen Atmosphäre der Jahrhundertwende geprägte Partitur des damals erst 23-jährigen Komponisten zum Glühen.
Maria/Mariettas Arie „Glück, das mir verblieb“ ist Jugendstil pur, trägt aber auch schon das wehmütige Abschiednehmen von dieser Epoche in sich. Die Neue Sachlichkeit steht vor der Tür. Die Rolle der Marie/Marietta Rolle verlangt neben einer wagnerischen Stimme viel schauspielerisches Können und auch tänzerische Einsatz. Viel davon ist in der Sopranistin Erica Eloff vorhanden, die in ihrem roten Kleid (Kostüme Tanja Hofmann) das Publikum das Publikum zu fesseln weiß, auch wenn sie es manchmal schwer hat, sich gegenüber den aufwühlenden Klangmassen zu behaupten.
In der Titelpartie braucht Andreas Hermann – als Gast – zunächst etwas Anlauf, kann aber dann seinen eher lyrischen Tenor gut einsetzen und ihm heldische Töne abverlangen. Als Paul steht durchwegs auf der Bühne und hat enorm viel zu singen. Am Schluss wirkt Hermann schon etwas ausgelaugt.

Jovana Rogulja (Lucienne), Yuranny Hernándet Gómez (Graf Albert), Jin Hun Lee (Victiorin), Adam Kim (Fritz, der Pierrot).
Einen überzeugenden Eindruck hinterlässt Adam Kim als Pierrot. Ein fein timbrierter Bariton, der in „Mein Sehnen, mein Wähnen“ seine nicht so recht erwiderte Liebe zu Marietta verströmen lässt. Gut ist auch Manuela Leonhartsberger als noch sehr junge Brigitta. Warum sie als Pauls Haushälterin auch in einer Schwesterntracht stecken muss, ist aber nicht ganz klar.
Martin Achrainer ist als Frank ein stets präsenter Freund Pauls, dem er – so das Libretto – helfen will, mit der Vergangenheit anzuschließen, sich mit dem Tod Maries abzufinden und sich dem Leben zu stellen. In Andreas Baeslers Inszenierung wird er allerdings zu einem wichtigen Teil der Ermittlungen. Er macht mit bei der Falle, die Paul mit dem Auftauchen Mariettas gestellt wird, um ihn zu überführen. Als Paul am Ende der Aufforderung Franks, seine Wohnung, seine „Kirche des Gewesene“ endlich zu verlassen, Folge leistet, geht er nicht in die Freiheit, sondern ins Gefängnis oder in eine psychiatrische Anstalt. Dieses überraschende, vom Libretto abweichende Ende wird von der Regie dem Publikum aber nicht zwingend aufgedrängt. Da ist schon ein kriminalistisches Verständnis erforderlich, um diese überraschende Wendung nachvollziehen zu können. Wenn Frank auf Marietta zugeht und ihr einen Geldbetrag überreicht, kann es vom Publikum auch so verstanden werden, dass das ihr Lohn dafür ist, seinen Freund Paul auf den rechten Weg und aus seinem selbstgewählten Vergangenheitsverlies gebracht zu haben: Regietheater der sanften, unaufdringlichen Art. Nicht mit absoluter Deutungshoheit, sondern als Angebot. Damit kann man leben. Ist gut gegen Langeweile und festgefahrene Erwartungshaltungen.