Linz: „DIE ANDERE SEITE“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 20. 05.2017
Musiktheater nach dem gleichnamigen fantastischen Roman von Alfred Kubin, Text von Hermann Schneider, Musik von Michael Obst
Michael Obst. Copyright: Petra und Helmut Huber
Alfred Kubin (1877 – 1959) ist als Zeichner in Oberösterreich, namentlich Linz und Schärding, weit über die üblicherweise an „Hochkultur“ Interessierten hinaus, ein Begriff. So existieren in vielen Haushalten in und um Schärding ansehnliche Sammlungen von Kubin-Blättern, denn der seit 1906 in Zwickledt/Wernstein beheimatete Meister des Düsteren und Hintersinnigen, der zeitlebens über wenig Geld verfügte, pflegte Dienstleistungen und Einkäufe oft mit Zeichnungen zu bezahlen.
Der Tiroler Zeichner Paul Flora überraschte, als er um 1980 in einer ORF-Serie über Lieblingsbücher erzählte, seines sei der Roman des Mitbegründers des „Blauen Reiter“; es heiße „Die andere Seite“ und ergehe sich in gewaltig ausgeführten Untergangsszenarien. Kubin hat auch geschrieben? Gar einen hochkomplexen, ausufernden Roman? Dem 1909 erschienenen Werk war kein Publikumserfolg beschieden, es genoss aber hohes Ansehen unter Zeitgenossen wie Hesse, Meyrink und Kafka, und Fritz v. Herzmanovsky-Orlando schrieb ihm dazu „… das herrlichste Buch…, das ich je gelesen habe. Es sagt mir Unendliches, es ist ein Kunstwerk voll unerhörten Abgründen, der höchsten Phantastik und dabei von minutiöser Klarheit. Wie ein Kunstwerk aus Stahl und seltsam geschliffenen dunklen Amethysten in denen sich ferne Sonnen spiegeln, muthet es mich an“ (Briefwechsel, Residenz Vlg. © 1983).
Hermann Schneider formte aus diesem Spiegelwerk ein Libretto, das vom seit seiner Musik zur Neufassung von Fritz Langs „Metropolis“ dem Phantastischen verpflichteten, in Dessau wirkenden, Michael Obst vertont wurde. Das Werk wurde, in der Regie von Stefan Suschke und dirigiert von Jonathan Seers, am 25. September 2010 in Würzburg uraufgeführt. Und weil das Linzer Spielzeitmotto „Aufbruch in eine neue Zeit“ ja nicht alleine eine Wendung zu besseren Zeiten bedeuten muss, paßt diese Oper auch gut in das raritätenreiche Programm, das am neuen Linzer Musiktheater seit Anbeginn gepflogen wird.
Martin Achrainer. Copyright: Saker Almonem /Landestheater
„Unter meinen Jugendfreunden war ein sonderbarer Mensch, dessen Geschichte wohl wert ist, der Vergessenheit entrissen zu werden. Ich habe mein Möglichstes getan, um wenigstens einen Teil der seltsamen Vorkommnisse, die sich an den Namen Claus Patera knüpfen, wahrheitsgetreu, wie es für einen Augenzeugen gehört, zu schildern“ So beginnt das Buch, in dem der Erzähler, von Beruf Zeichner, nebst Gattin von seinem unermeßlich reich gewordenen Schulfreund Patera in dessen utopische Stadt „Perle“, irgendwo im ferneren Osten, eingeladen wird, in der niemals die Sonne scheint. Patera ist jeglichem Fortschritt abhold, und so soll auch seine Stadt sein (Kakanien vor Musil?) – man lebt in einer Zeit 20 – 30 Jahre vor dem Jetzt. Es stellt sich bald heraus, daß Perle eine Dystopie ist, voll Bedrohungen und Unheimlichkeiten, von Neurasthenikern (so nannte man einst „burn out“-Befallene) bevölkert. Die Frau des Zeichners siecht dahin und stirbt, und nach und nach gerät ganz Perle aus den Fugen; Tiere, Pilze und Bakterien übernehmen die Herrschaft, und schließlich kommt es zur „feindlichen Übernahme“ des Patera‘schen Traumreiches durch den ebenso vermögenden, aber an Fortschritt und Mammon glaubenden US-Amerikaner Hercules Bell. Die Sonne dringt in das Traumreich ein, die meisten Bewohner sind tot. Der Zeichner findet Zuflucht in einer Heilanstalt und gelangt im Nachsinnen über das Erlebte und dessen Dialektik zu der Erkenntnis „Der Demiurg ist ein Zwitter“.
Bei der Premierenfeier kam es zu einem recht bemerkenswerten Moment: der Librettist, in persona!, merkte an, daß der Regisseur eigentlich ganz was anderes aus dem Stück gemacht hätte, als er sich selbst vorgestellt (und Stefan Suschke bei der Uraufführung inszeniert) hätte. Aber das Handlungskonzept John Dew‘s sei ihm schlußendlich durchaus logisch erschienen. Was man jedenfalls sagen kann: es ging (meist) auch sehr gut mit den Klangwelten von Michael Obst zusammen.
Martin Achrainer, Denis Lakey. Copyright: Tom Mesic (Landestheater)
Die Handlung spielt in dieser Regie gänzlich in einem psychiatrischen Krankenhaus alter Art, also „Irrenanstalt“, wie noch um 1900 verbreitet. Was natürlich ausführliche Chance bot, bizarre Gestalten auf die Bühne zu stellen, die von der Maske (Uwe Wagner) ebenso liebevoll schräg und detailreich porträtiert werden wie von ihren Darstellern. Andererseits muss man einwenden, dass die „philosophische Satire“ im Text Kubins schärfer und beunruhigender ausfallen würde, wenn sie einem (vordergründig) „Normalen“ in den Mund gelegt würde, als wenn sie ein à priori als Wirrkopf Porträtierter ausspricht – da weckt man höchstens das alte Klischee vom Narrenmund, aus dem die Wahrheit kommt … Insoferne können wir Hermann Schneiders Zufriedenheit nicht teilen.
Was – auch musikalisch – gut funktioniert, sind die heute allseits als „kafkaesk“ bezeichneten Szenen einer bösartigen und bis zum Wahnsinn überkonsequenten Bürokratie, die sich den Protagonisten in den Weg stellt; wobei man, abseits der uns nicht näher bekannten Kommunikation unter der damaligen Avantgarde, auch bedenken sollte, dass die ersten Werke Kafkas erst 1913, also 4 Jahre nach dem Roman Kubins, im Druck erschienen sind, der Ausdruck daher womöglich „kubinesk“ lauten sollte. Aber Kubin hatte keinen Max Brod…
Nikolai Galkin, Matthäus Schmidlechner, Martin Achrainer, Gotho Griesmeier. Copiright: Saker Almonem/Landestheater
Obsts dramaturgisch ausgefeilte Musik umfaßt ein extrem weites Spektrum: die sehr eindrücklichen Chorstellen wecken Assoziationen einmal zur Gregorianik, andermals zu Bruckner. Mitunter setzt er freie Tonalität ein, mitunter elektronisch generierte Klänge (Ton: Robert Doppler) und Sprechstimmen (u. a. Christian Manuel Oliveira), dann wieder tonale, feingewebte Lyrik oder ein unerbittlich-maschinelles Fugato. Hochkomplex, beeindruckend, und vom Bruckner Orchester unter Dennis Russell Davies (seine letzte Opernpremiere in Linz als „Angestellter“ des Hauses!) präzise umgesetzt. Der Chor (Einstudierung Georg Leopold) macht seine Sache gewohnt exzellent – besonders beeindruckend das fast gespenstische Finale, a capella gesungen!
Bühne und Kostüme (Dirk Hofacker) bleiben im Konzept der Regie wie der zeitlichen Einordnung des Romans: ein kahles Gebäude mit wenig industriell-lakonischem Zierat, wie man um 1900 herum öffentlich sparsam baute, mitunter sehen wir auch Narrenkäfige oder die Ottoman aus der Berggasse 19; abgesehen von den „Irren“ in ihren Kitteln die Kleidung gutbürgerlich und bis ins letzte Detail (Herren-Strumpfhalter!) zum Roman zeitgenössisch – die älteren Moden der Bewohner von Perle (gemäß Pateras/Kubins Konzept!) müssen uns in der Regie freilich vorenthalten bleiben.
Die Hauptrolle des Zeichners wird von Martin Achrainer mit prachtvollem, präzisest geführtem Bariton und buchstäblich bis zum Wahnsinn intensivem Schauspiel gegeben: gleich zu Beginn ein gräßlicher, wiewohl tonloser Schrei: Al Pacino auf den Stufen des Teatro Massimo von Palermo im Paten Teil III – großes Kino! Seine Frau, Gotho Griesmeier, steht ihm kaum nach – auch sie füllt ihre Rolle in Stimme und Spiel perfekt aus. Gast Denis Lakey, schon bei der Uraufführung dabei, läßt in mehreren Rollen, v. a. als Patera, seinen Countertenor leuchten.
Nikolai Galkin nutzt seinen guten Baß, u. a. als Primarius der Klinik. Eindrucksvoller dramatischer Tenor, z. B. als unerbittlich umwegige Amtsperson: Csaba Grünfelder. Auch Michael Wagner und Matthäus Schmidlechner bringen ihre vorzüglichen Stimmen und darstellerischen Fähigkeiten in mehreren Rollen zur Geltung.
Als Melitta (im Original Arztensgattin, hier Krankenschwester) beweist uns Martha Hirschmann wieder einmal ihre vorzügliche Stimme – und daß sie auch das Zeug zu einer atemberaubenden Verführerin hat.
Pateras Gegenspieler, Herkules Bell, Sprechrolle (ist das dramaturgisch wirklich eine gute Idee??): John F. Kutil verleiht ihr stimmlich Durchschlagskraft, die neben den vorzüglichen Sängern bestehen kann; aber seine Figur wird hier auch wieder dadurch relativiert, daß er eigentlich „nur“ einer der Insassen des Irrenhauses ist.
Nach 1 Stunde 45 Minuten tour de force großer Applaus, der bei der Premierenfeier dann noch einmal bekräftigt wurde – mit Extraportionen für Griesmaier, Achrainer, Hirschmann, Davis und das Orchester.
Petra und Helmut Huber