Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

Linz/ Musiktheater des Landestheaters/Großer Saal: :„RAGTIME“– Musik von Stephen Flaherty. Premiere

09.02.2019 | Operette/Musical


Ariana Schirasi-Fard  und Ensemble. Foto: Reinhard Winkler

Linz:„RAGTIME“– Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 08. 02. 2019

Musical in drei Akten nach dem gleichnamigen Roman von Edgar Lawrence „E. L.“ Doctorow, Buch von Terrence McNally, Libretto vonLynn Ahrens, Musik von Stephen Flaherty

Deutsch von Roman Hinze | In deutscher Sprache mit Übertiteln

Wie der Autor Daniel Kehlmann meint, hätte E. L. Doctorow (1931 – 2015) mit diesem ungewöhnlichen, 1975 erschienenenRoman „ein Spiel mit amerikanischer Geschichte, erzählt mit den formalen Mitteln deutscher Romantik“ verfaßt, das sehr vieles „dem Stil Heinrich von Kleists und dessen Novelle ‚Michael Kohlhaas‘ verdankt“. Womit wir schon beim Hintergrund für den eigenwilligen Namen eines Protagonisten wären. Hauptfigur deshalb nicht, weil dieses New Yorker Historienpanorama aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts exemplarische Schicksale exemplarischer Familien dramaturgisch gleichberechtigt nebeneinander stellt und miteinander verflicht: etablierte (und konservative, aber auch sozial eingestellte) weiße Amerikaner, jüdische Einwanderer und trotz Sklavenbefreiung weitaus nicht als Menschenakzeptierte Schwarze. Dazu ist die Handlung mit damaligen und in vielen Aspekten bis heute bedeutenden Prominenten– und Problemen – durchsetzt.

1981 gab es eine von Milos Forman geleitete Verfilmung (mit dem letzten Leinwandauftritt von James Cagney), für 8 Oscars® nominiert, aber ohne so einen Preis auch abholen zu können. Das Musical wurde am 8. Dezember 1996 in Toronto uraufgeführt und war in Österreich erstmals in der vergangenen Saison in Graz zu sehen (Übernahme der durchaus prachtvollen deutschsprachigen Erstaufführung 2015 in Braunschweig).

Der Titel bezieht sich auf einen der ersten eigenständig in den USA entstandenen Musikstile, der sich ab ca. 1865 aus dem Zusammentreffen europäischer Tanzmusik mit afrikanischer Synkopierung entwickelte. Auch die Übersetzung der Spielweise beispielsweise desBanjos auf das Klavier dürfte eine Rolle gespielt haben. Die erste verlegte Komposition unter dieser Gattungsbezeichnung, „Louisina Rag“ von Theodore Northrup, erschienen 1897. 1904, bei der Weltausstellung in St. Louis, war Ragtime große Mode und verbreitete sich, auch durch die neuen Schallplatten, um die Welt. Im zeitlichen Umkreis des „Great War“ stand Ragtime natürlich auch bei der Entwicklung des „Jass“ (später „Jazz“) Pate.

Der bekannteste und fruchtbarste Komponist dieser Musik war Scott Joplin aus Sedalia, Missouri. Seine Werke führten auch nach einer langen Zeit relativer Obskurität des Stils zu einer Wiederentdeckung des Ragtime durch den Film- und Musicalkomponisten Marvin Hamlish, als er für die in der Dreißigern spielende Gaunertragikomödie „The Sting“ (1973) eine griffige Musik suchte – „The Entertainer“ wurde nicht nur zur zwar anachronistischen, aber durch ihre Struktur das komplexe plotspiegelnden Titelmusik des Films, sondern, auch in Adaptationen für verschiedene Solisten, zum postumen Welthit für Joplin.

Im Musical ist die Musik zwar in vielen Szenen vom titelgebenden Stil geprägt – und das sind auch die musikalisch besten (auch in absolutem Maß wirklich guten) Passagen, zusammen mit denen, in denen Gospel dominiert – auch wenn in diesen ein zwar nicht handlungszeitgemäßer, aber musikalisch passenden Schuß Soul gemischt ist. Aber wenns lyrisch wird, wird die Musik „zaach“ – es werden die wenigen Klischeeakkorde und -effekte bemüht, die man aus Dutzenden anderen neueren Stücken kennt, und die diese musikalische Welt mitunter zum Einheitsbrei werden lassen. Bemerkenswert ist, daß sich das irgendwie auch auf den Text niederschlägt (dramaturgische Federführung Arne Beeker): ist in besagten Stellen auch eine mühevolle Wortwahl und Satzstellung zu merken, gelingen trotz der diesbezüglich nicht sehr handlichen deutschen Sprache die Texte der Ragtime-Abschnitte in allen Aspekten wesentlich besser, rhythmisch geradezu reptilhaftgeläufig!


Elias Poschner, Carsten Lepper. Foto: Reinhard Winkler

Es spielt eine ca. dreißigköpfige Besetzung des Bruckner Orchesters, stilsicher geleitet von Tom Bitterlich. Besonders der wunderbare Bläserklang ist hervorzuheben – aber das ist nur der ohrenfälligste Punkt an den herausragenden Qualitäten dieses Klangkörpers auch abseits auch der forderndsten „klassischen“ Musiktheaterliteratur.

Die Inszenierung von Spartenchef Matthias Davids kann einige Längen des Stückes nicht kaschieren, geht aber mit der größtmöglich geöffneten Bühne sehr geschickt um: von der intimen und doch nicht verloren wirkenden Zweierszene bis zum kalkulierten Chaos von ereignisreichen Massenauftrittenist die Gestaltung aus einem Guß, sind die Charaktere genau definiert und geführt.Und die trotz des insgesamt tragischen Geschehens vorhandenen Pointen werden präzise serviert.

Dazu tragen wesentlich auch die unaufdringlich stilsicher und handlungsdienlich entworfene und von Chor wie Solisten perfekt umgesetzte Choreografie von Melissa King wie eine wieder einmal genial konstruierte Bühne von Hans Kudlich bei: eine Bühnenumrahmung und -ausstattung mit einer Holzlattenkonstruktion evoziert die grindige Atmosphäre der Lower East Side der wilden Einwandererstadt New York, paßt auch als Rahmen von Hafenszenen oder als rauhe äußere Schale der „besseren“ Orte New Rochelle oder Atlantic City. Letztere können rasch durch aufklappbare Versatzstücke, ohne Zwischenvorhang, geschaffen werden. Innerhalb dieser Fixausstattung wird mit eisernen Treppen, Hebeböden (einschließlich der Passerelle vor dem Orchestergraben) blitzschnell ein neuer Raum oder ein Schiffsbug geschaffen, oder wird mit aus dem Schnürboden kommenden Leitern eine Feuerwehrstation entworfen.Das Lichtdesign (Michael Grundner) vervollkommnet diese Eindrücke.

Eine ganz große Augenweide sind die minuziös epochegetreuen und auf die Personen sorgfältigst abgestimmten Kostüme von Susanne Hubrich (und vielen ungenannten Meisterinnen und Meistern in den Werkstätten!) – sie alleine sind schon einen Besuch der Aufführung wert!

Coalhouse Walker jr., Ragtime-Pianist und wüst scheiternder Rächer und Opfer rassistischer Übergriffe ist der Gast Gino Emnes – intensives und überzeugendes Schauspiel, vorzüglicher Tenor. „Seine“ unglückliche Sarah verkörpert Myrthes Monteiro mit großer Stimme und großer, glaubwürdiger Emotion.

Die prototypische „Mutter“ des gehobenen Mittelstandes wird von Daniela Dett mit großem Herzen und großer Stimme gegeben; sie kann auch wirklich berühren! Etwas, das auch dem Darsteller des „Tate“ (jiddisch für Vater), Riccardo Greco, ausgezeichnet gelingt; seine Figur ist zudem durch ihre wechselvolle Biographie im Stück besonders reich an Facetten; Herr Greco hat im Grunde am meisten vom Abend; daß er ihn nicht gänzlich stiehlt, liegt an seinen exzellenten Bühnenpartnerinnen und -partnern, die das nicht zulassen…


Ida Gillesberger, Riccardo Greco. Foto: Reinhard Winkler

Der eher distanzierte, nur mühsam dann und wann emotionell aus sich herausgehende „Vater“ wird in seiner Egozentrik und gesellschaftlichen Schablonenhaftigkeit von Carsten Lepper sorgfältig portraitiert. Gernot Romic zeichnet das coming-outvon Mutters jüngerem Bruderals Revoluzzer ebenso glaubwürdig.Landestheaterveteran Günter Rainer hat als grantelnder wie weiser Großvater (und in anderen Rollen) seine Pension zum allgemeinen Vergnügen unterbrochen. Die ganz und gar nicht kleine Rolle seines Enkels wird von Elias Poschner mit Bravour auf die Bühne gestellt.Sein Gegenstück in der Welt der jüdischen Immigranten ist Ida Gillesberger, ein berührendes „Mädchen“.

J. Lynch stellt den Bürgerrechtler Booker T. Washington als Politiker dar, der nicht immer den wahren Problemen „des Volkes“ gerecht wird. Emma Goldman, linke Gewerkschafterin, wird von Ariana Schirasi-Fard zum aktivistischen Leben erweckt, die Tänzerin und „Skandalnudel“ Evelyn Nesbitvon Hanna Kastner mit genußreicher, aber nicht vulgärer Offenheit portraitiert – sie ließ zwar wegen Erkältung ansagen, aber eigentlich nichts anmerken.Christof Messner hat als eher schräger Harry Houdini gleich zu Beginn einen reichlich atemberaubenden Auf… naja, -tritt kann man eigentlich nicht sagen. Christian Fröhlich spielt nicht nur den rassistischen Feuerwehrhauptmann, der die Katastrophe des Stückes provoziert, sondern auch Henry Ford, der ja aus ähnlichem Holz geschnitzt war.

Letztere übernehmen auch weitere kleinere Rollen und Ensembleaufgaben, zusammen mit Chastity Crisp, Lynsey Thurgar, Christopher Hemmans, Lionel von Lawrence, Terry Alfaro, Sophie Mefan, Chiara Fuhrmann, Naomi Simmonds, Tomaz Kovacic, Csaba Grünfelder, Markus Raab, Bonifacio Galván und Marius Mocan. Die letzten vier sind auch Teil des präzisen Chores des Landestheaters, Einstudierung Elena Pierini.

Großer Applaus, auch für viele Einzelszenen, für eine austattungsseitig und seitens der Darsteller und Darstellung prachtvolle Produktion eines Stückes, das gekonnt einen ganzen Roman auf 2½ Stunden Nettospieldauer kondensiert und mit nicht immer sehr ideenreich komponierter Musik Probleme behandelt, die vor hundert Jahren wie heute relevant waren und sind.

Petra und Helmut Huber

 

Diese Seite drucken