Linz: „NEUZEIT“ – die 4. Aufführung am Musiktheater des Landestheaters nach der Uraufführung am 8. dM, Großer Saal, 25. 10.2022
Tanzstück von Johannes Wieland
Foto: Laurent Ziegler
Der Autor und Choreograph, der u. a. bei John Neumeier studiert hat und prägende Zusammenarbeiten mit Roland Petit und Maurice Béjart aufzuweisen hatte, bevor er (in New York) eine eigene Tanzcompagnie gründete, leitet dieses Stück folgendermaßen ein:
„du hast alles an dir vorbeiziehen sehen: deine freunde haben sich verheiratet, sie haben kinder bekommen. aber irgendwie bist du in einer mentalen zeitschleife stecken geblieben – und sie hat dir nur einen beobachterposten zugewiesen. einen außenposten, nicht mittendrin. und jetzt siehst du immer weiter die dinge an dir vorbeiziehen, ohne sie richtig zu verstehen, aber auf der anderen seite: soll jetzt dein leben eine einzige meditation, eingebettet in einem unendlichen schweigeseminar werden, damit du genug zeit hast, alles zu verstehen? wohl eher nicht.
eine andere möglichkeit wäre, sich an kant und hawking, einstein und nietzsche zu erinnern – denn sie werden dir vielleicht helfen, einen fluchtweg zu finden. oder solltest du, denn das geht natürlich auch, die zeit einfach vergessen, eine neue genesis einleiten und dich in deinem wirklich sehr begrenzten raum entspannt zurücklehnen?“
Horst Heiss und zweimal Opel. Foto:Laurent Ziegler
Im Laufe des Abends wächst in uns allerdings eine andere, weit konkretere Erkenntnis heran… Angesichts des Monologs des mit unguten Blessuren geschminkten Schauspielers Horst Heiss, der davon spricht „jetzt endlich von allem frei zu sein“ und überlegt, ob er „nicht doch das Radio in Ruhe hätte lassen“ sollen und vor allem zwei monumental ineinander gekrachten PKWs mit besonders dynamisch drapierten, zerfetzten Windschutzscheiben (da muß wer durchgeflogen sein!), angesichts eines älteren Ehepaares (sehr körperbeherrschte Statisterie), das ebenfalls in einer Zwischenwelt gefangen scheint: Hier blicken wir wohl in das verdämmernde Leben nach einem schrecklichen Unfall. Erinnerungen an den Film „Les choses de la vie“ von Claude Sautet mit Michel Piccoli und Romy Schneider tauchen auf.
Zeitdehnung und Zeitraffer (die Bilder beginnen sogar mit einem kurzen Blick aufs Paradies mit Adam und Eva) sind auch in der Choreographie angesagt, wenn gleichzeitig manche (mit irrsinniger Körperbeherrschung!) unendlich langsame, aber immer fließende Bewegungen demonstrieren, während andere mit wahnwitziger Beschleunigung über die großteils mit Grasteppich belegte Bühne, die über dem Orchestergraben errichtet wurde, trippeln oder karriolen. Für deren Muskulatur gnädigerweise (oder von den Tänzerinnen und Tänzern selbst so arrangiert, siehe unten) wechseln aber die „langsamen“ und die „schnellen“ Darstellungen quer durch die Compagnie ab.
Das im vorletzten Absatz beschriebene Geschehen scheint sich auf einer Straße nahe einem Golfplatz ereignet zu haben, denn durch die ganze Aufführungsdauer stehen eine Statistin und ein Statist in eleganter Golfkleidung an den äußeren Bühnenrändern und zelebrieren, ebenso wieder unendlich beherrscht, laaaangsam, die Vorbereitungen zu einem Abschlag. Wenn dieser erfolgt, ist das Stück vorbei – in Wirklichkeit sind die 70 Minuten, die der Abend dauert, also nur wenige Sekunden.
Die intensiven psychedelisch-suggestiven musikalischen Welten, die vom dzt. Kasseler Dirigenten, Komponisten und Sounddesigner Donato Deliano auch mit Material der einstigen (2001 – 2010) in Portland, Oregon beheimateten US-Experimentalband Chromatics und des kanadischen Musikers Peter Pringle zusammengestellt wurden, könnte man vergleichsweise in einem Dreieck aus „Kraftwerk“, der Isländerin Björk und Nick Cave’s Konzeptalbum „Ghosteen“ verorten. Sie entziehen sich einem einordenbaren Zeitablauf. Die Bühne (Momme Röhrbein) trägt mit ihrem heftigen Aufeinanderprall von üppigem Naturalismus (der „paradiesische“ Hintergrund zu Beginn), der eintönigen Rasenfläche des Golfplatzes, daneben Abstraktion und drastischem Unfallbild ebenso zur Verunsicherung der Zuseherschaft im Sinne einer Aufhebung der gewohnten Beziehungen von und zu Zeit und Raum bei. Dem gegenüber stehen die nüchtern-realistischen Kostüme von Angelika Rieck, die die Brücke zur Alltagswelt schlagen. Dramaturgie, mit lesenswerten Betrachtungen zur Zeit im Programmheft: Lauren Rae Mace und Roma Janus.
Foto: Laurent Ziegler
Die Listung der Tanztruppe suggeriert eine demokratische Entstehung des Bühnengeschehens – es heißt nämlich „Tanz und choreografische Zusammenarbeit“: Elena Sofia Bisci, Matteo Cogliandro, Yuko Harada, Yu-Teng Huang, Katharina Illnar, Angelica Mattiazzi, Pavel Povrazník, Lorenzo Ruta, Arthur Samuel Sicilia, Nicole Stroh, Hinako Taira, Pedro Tayette und Fleur Wijsman; Choreografische Assistenz: Victor Rottier.
Der Zuschauerraum war an diesem Vorabend des Nationalfeiertages ziemlich mäßig dicht besetzt – es werden wohl nicht 50 % der Kapazität erreicht worden sein. Der Applaus war nichtsdestoweniger sehr lebhaft.
Petra und Helmut Huber