Das Schultor. Foto bei einem „Grätzelspaziergang“ mit Peter Androsch am Mittwoch 15. 1. entstanden . Foto: Helmut Huber
Der Komponist und die Partitur. Foto: Helmut Huber)
Linz: „DIE SCHULE ODER DAS ALPHABET DER WELT“ – Uraufführung am Musiktheater des Landestheaters, Black Box, 19. 01.2020
Musiktheater mit Texten von Silke Dörner, Bernhard Doppler und Peter Androsch, Musik von Peter Androsch
Das „Akademische Gymnasium“ an der Linzer Spittelwiese hat eine bemerkenswerte Geschichte: gegründet als Gegeninstitut („Evangelische Landschaftsschule“) zur Wiener Universität 1542, wollte man abseits der katholischen Haupt- und Residenzstadt eine protestantische Universität errichten; immerhin zählte 1612 bis 1626 sogar ein Johannes Kepler zu den Lehrern an diesem Institut. Eine Universität für Linz gab es dann aufgrund der Gegenreformation erst 1966, aber jedenfalls etablierte sich diese Schule als klassisches Bildungsinstitut. Zumindest bis ins späte 20. Jahrhundert galt die Schule als „schwarz“ – z. B. sind drei Landeshauptmänner ab 1945, jeweils ÖVP, durch sie gegangen. Dabei ist diese klare Ausrichtung erst ein Produkt der Nazizeit: nicht einmal unter dem Schuschnigg-Regime ging eine gewisse Vielfalt verloren; nach dem März 1938 jedoch wurden die katholischen Privatschulen wie Kremsmünster oder Lambach geschlossen und deren Zöglinge an die Spittelwiese versetzt, wo sie im 1872 eingeweihten, bis heute bestehenden Haus unterrichtet wurden – unter der Direktion eines (trotz allem facettenreichen) NSDAP-Mannes, selbstverständlich; selbiger war dann 1950 der Taufpate Jörg Haiders…
Auf der Absolventenliste findet sich eine Reihe außerordentlicher Persönlichkeiten: neben einigen (auch „rote“) Linzer Bürgermeister, bekannte „Grüne“ wie Severin Renoldner; dann Größen wie Ludwig Boltzmann, Ludwig Wittgenstein, Hermann Bahr, Nico Dostal, den Mitbegründer des Lehàr-Festivals in Bad Ischl Eduard Macku, Architekt Laurids Ortner („Haus-Rucker-Co“, Wiener Museumsquartier), Oscar®-Preisträger Stefan Ruzowitzky und Alfred Maleta, langjähriger Parlamentpräsident. Dieser hatte eine Klassenkameradin (eines der wenigen Mädchen, die um 1920 diese Schule besuchten) namens Angela „Geli“ Raubal – Nichte, Mündel und spätere Geliebte von Adolf Hitler; sie hat sich 1931, 4 Jahre nach der Matura, selbst umgebracht.
Reduziert mans auf die Kausalkette, gab Hitler Anstoß zu dem Werk, das wir heute erstmals hören können: Der Fabrikantensohn und bis 1935 Spittelwiesen-Schüler Hans Siegmund (John S.) Kafka, Neffe von Klara Hitlers Hausarzt Dr. Eduard Bloch, entkam der Verfolgung in die USA. Nachdem „das Akademische“ heute enge Verbindung zu ehemaligen Schülern hält, konnte Kafka, als Psychoanalytiker erfolgreich geworden, die Rede nachlesen, die Kulturhauptstadt09-Spartenleiter und „Alt-Spittelwieser“ Peter Androsch 2013 bei einer Maturafeier dort hielt. Beeindruckt nahm er Kontakt mit Androsch auf. Schlußendlich entwickelte sich ein hochkomplexes Projekt, Teil dessen auch diese Oper ist. Personen, Facetten, Ergebnisse und das Libretto lassen sich umfassend auf https://www.die-schule.at nachlesen.
Rafael Helbig Kostka. Foto: Sakher Almonem
Mit Schule, wenn auch „postgraduate“, hat diese Produktion auch auf einer weiteren Ebene zu tun: die Aufführung ist mit den Mitgliedern des Opernstudios besetzt. Ansonsten wird das große Schulpanorama vom Extrachor des Landestheaters (Leitung Martin Zeller), Statisterie, Studentinnen und Studenten der Bruckner-Universität und Schauspielrollen getragen, unter den letzteren protagonistisch eine alte Dame (Eva-Maria Aichner) und ein alter Herr (Horst Heiss) – in diversen Lehrer- und Absolventenrollen erzählen sie Geschichte, Geschichten und Anekdoten aus und um die Schule, im wesentlichen aus den Jahren 1918 bis heute. Einen reichhaltigeren, vielfältigeren, dramatischeren und tragischeren bis bösartigeren Zeitabschnitt wird man wohl kaum finden – im Sinne des angeblichen chinesischen Fluches höchst „interessante Zeiten“. Die wahnwitzigste von allen, doch verbrieft, ist die Geschichte des Erasmus Gerhard Reichel (1912 – 1994), später Gerardo Reichel-Dolmatoff: Fliegt wegen Nazi-Umtrieben vor 1930 von der Schule (betrieben vom späteren Nazi-Schuldirektor!), geht nach Deutschland zur SS, nimmt aktiv mörderisch am sogenannten Röhm-Putsch teil, legt 1937 in einer Prager Exilantenzeitung eine umfassende Beichte ab, emigriert in die Neue Welt und wird schließlich zum Gründervater der lateinamerikanischen Anthropologie.
Insgesamt ist dieses „Schultheater“ (Inszenierung: Andreas von Studnitz) sehr an „lebenden Bildern“ orientiert („mit Musik aufgeladene Erstarrung“), wie sie etwa bis zum ersten Weltkrieg in Mode waren. Freilich werden diese immer im Schülergewande, etwa der Art um 1930, präsentiert. Das Klassenzimmer ist auf einer fast saalbreiten Tribüne aufgebaut, Schultafeln bilden den Hintergrund. Während die Ouverture erklingt, beziehen Schülerinnen und Schüler ihre Bänke und schleppen, auch metaphorisch, schwer an ihren Schultüten; letztere wurden freilich hierzulande erst in den 1980ern üblich (Bühne und Kostüme: Renate Schuler, zweckdienliches Lichtdesign: Ivo Iossifov, Dramaturgie, nicht zuletzt, um die große Materialmenge auf Aufführungspraxis zu ordnen: Ira Goldbecher, Katharina John und Andreas Erdmann).
In 25 Nummern werden all diese Themen und Facetten behandelt. Androschs Musik erinnert oft an die von Michael Nyman („Time Lapse“), mitunter kommt auch der Gedanke an die stilistisch moderneren unter den Werken von Bernard Herrmann auf, und je nach Thema sucht er sich weitere bekannte Vorbilder als Strukturgeber. Von diesen „konventionellen“ Teilen abgesehen wird auch mit clusters (vor allem zu Beginn) und chorischem Sprechen und Schreien gearbeitet. Dazwischen teils ausgesprochen melodische Einzelstücke, die ihren Charakter natürlich auch nicht von ungefähr erhalten haben. Ein wunderbares Nachtstück handelt von Nyx, Hypnos, Thanatos & Co – in Hinblick auf den Schlaf, der uns mitunter in der Schule ereilt(e)…
Foto: Sakher Almonem
Der Bassbariton Philipp Kranjc erzählt in einer ausgesprochen lyrisch fließenden Ballade davon, wie einst Alfred Maleta und Geli Raubal im Kürnberger Wald von einem Gewitter überrascht wurden; Mezzo Florence Losseau hat die bemerkenswerte Aufgabe, ein Jahreszeugnis in der Art eines Schubert-Liedes zu präsentieren – und ist vorher schon einmal auf einer Musiktheaterbühne der Welt das Wort „Informatik“ gesungen worden?? Die Soprane Svenja Isabella Kallweit und Etelka Sellei dürfen zu Musik, bei deren Verfassung Androsch erklärtermaßen an Kurt Weill gedacht hat, als die beiden einzigen Mädchen des Maturajahrganges 1927 ein Duett „Seit wir tot sind“ bringen, und Bariton Timothy Connor nimmt sich des titelgebenden Alphabets in recht hoher, aber gut bewätigter tessitura an (Tangente: inwieweit hat Androsch dabei an Hindemiths Kepler-Oper „Die Harmonie der Welt“ gedacht?). Nur der lyrische Tenor Rafael Helbig-Kostka hat diesmal weniger zu singen, aber das macht er, wie seine fünf Kollegen, stimmlich und in Diktion vorzüglich.
Weitere solistische (Sprech)Rollen sind besetzt mit Tamara Culic, Melanie Sidhu, Annelie Straub, Maximilian Bendl, Levent Kelleli und Florian Granzner; besonders fällt unter diesen schön herausgearbeiteten Individuen „der Stotterer“ von Jakob Kajetan Hofbauer auf.
Pause gibt es nur auf der Bühne, als die bekannte Schulklingel ertönt; eine ungefähre Reprise der Ouverture ruft die Schülerinnen und Schüler auf ihre Plätze zurück; die Aufführungsdauer beträgt ca. 2 Stunden 10 Minuten – vielleicht besser, wenns nicht länger dauert, weil „der Wahnsinn herrscht“ in der Schule – bezogen auf hierarchische Ordnungen, Benotungen etc.
Jinie Ka leitet die stimmungs- und farbenreiche Umsetzung dieser rhythmisch anspruchsvollen Partitur; mitunter spielt sie auch (pantomimisch) szenisch mit. Das Bruckner Orchester hat sozusagen eine kammermusikalische Fraktion entsandt: 4 vl, 2 vla, 2 vlc, 2 b; 1 Schlagwerker mit großer Trommel, Pauken, Gong, Vibraphon, Holzblock; 1 keyboarder mit p & syn; tp, tb, fh, fl, ob, cl & bcl, fg & bfg sind für die nicht allzugroße Kubatur der Black Box mehr als ausreichend – von zartester Lyrik bis zum wilden Ausbruch, auch in dieser Formation natürlich mit gewohnter Präzision und Musikalität.
Begeisterter Applaus für alle, besonders auch für die Autoren dieses originellen und sehr hörenswerten neuen Werkes.
Helmut Huber