LINZ / Musiktheater: Oper BENJAMIN BUTTON
30. April 2024 (Uraufführung 6. April 2024)
Von Manfred A. Schmid
F. Scott Fitzgeralds Novelle „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ über einen Mann, der als Greis auf die Welt kommt und ein Leben im Rückwärtsgang – von der Reife über Jugend, Kindheit bis zur Geburt – durchläuft, erlangte Berühmtheit durch die Verfilmung mit Brad Pitt in der Titelrolle. Der bis zu seiner Pensionierung am Salzburger Mozarteum als Professor für Komposition tätige Reinhard Febel erhielt von Landestheater Linz, gefördert durch die ernst von siemens musikstiftung, einen Kompositionsauftrag, entschied sich für eine Vertonung dieses Stoffes und verfasste gleich auch das Libretto dazu. Trotz einer erklecklichen Zahl von Aufführungen musikdramatischer Werke, vornehmlich an deutschen Opernhäusern, ist der Komponist hierzulande bisher eher unbemerkt geblieben. Das sollte sich ändern. Mit der Anfang April uraufgeführten einaktigen Oper Benjamin Button ist Febel ein beachtliches Werk gelungen, bei dem nicht nur die musikalische Gestaltung überzeugt, sondern auch die dramaturgische Strukturierung und der Text. Neben der merkwürdigen, weil diametral zum Üblichen verlaufenden Biographie, in der eine Liebesgeschichte eine zentrale Rolle spielt, geht es hier auch um gut 90 Jahre Zeitgeschichte aus amerikanischer Sicht: Zwei Zeitungsjungen (Jonathan Hartzendorf/Alexander York) , die per Fahrrad herangeradelt kommen, berichten immer wieder anhand der Schlagzeilen von den großen Ereignissen in der Welt, aber auch von eher alltäglichen Vorfällen aus der Umgebung. Das beginnt mit dem Goldrausch in Kalifornien zurzeit von Benjamin Buttons Geburt 1860, und reicht dann vom amerikanischen Bürgerkrieg über die beiden Weltkriege, dazwischen die globale Wirtschaftskrise 1929, bis zum Beginn des Koreakriegs Anfang der 50er Jahre.
Das Leben Benjamins verläuft eigentlich ziemlich unspektakulär. Er wächst auf, pardon: er wächst zurück in einer wohlhabenden Familie, hat wirtschaftlich kaum jemals Sorgen und übernimmt zum geeigneten Zeitpunkt die Firma seines Vaters, ein Unternehmen, das mit Schrauben und Nägeln erfolgreich ist. Den Werbeslogan „Schrauben und Nägel halten die Welt zusammen“, den sein Vater bei jeder Gelegenheit verkündet, übernimmt er natürlich auch. Dass die Welt hingegen immer mehr aus den Fugen gerät, verkündet ein Wanderprediger (Michael Dimovski), der wiederholt mit einem Schild auftaucht, auf dem wegen des bevorstehenden Weltuntergangs zur Reue aufgerufen wird.
Ein aufgewecktes kleines Mädchen aus der Nachbarschaft, das er kennenlernt, als er noch recht alt, wenn auch kein Greis mehr ist, trifft er wieder, als sich ihre diametralen Lebensläufe altersmäßig günstig überschneiden. Das Wiedersehen mit der inzwischen zu einer erfolgreichen Sängerin gewordenen Hildegarde mündet in einer, wie es scheint, glücklichen Ehe. Doch als er immer jünger und sie älter wird, nimmt die Entfremdung zu, bis er, nunmehr wieder ein kleines Kind geworden, sie nicht mehr erkennt. Hildegarde aber bleibt ihm verbunden und kümmert sich um ihn auch dann noch, als die riesig großen Plüschtiere, die schon bei seiner Geburt anwesend waren, erneut, diesmal als unheimliche Todesboten, an seiner Seite auftauchen.
Die Musik von Bernhard Febel ist vielseitig und abwechslungsreich. Das von Ingmar Beck schwungvoll und hochpräsent geleitete Bruckner Orchester Linz bewältigt die rhythmisch wie auch spieltechnisch komplexen Klänge, bei denen sich Febel einer Vielzahl von zeitgenössischen Kompositionstechniken bedient, mit Bravour. Neben atonalen, an Schönberg erinnernde Passagen gibt es auch verfremdeten Big-Band-Sound und Jazziges zu hören. Richard Strauss wird – themagerecht – mit „Die Zeit, die ist ein sonderbar‘ Ding“ aus Der Rosenkavalier zitiert, und ein Straßenmusiker (Ulf Bunde) besingt in einer Wild-West-Moritat das Ende von Bonnie und Clyde. Langweilig ist die Musik von Febel jedenfalls nie, und die eher unkompliziert und nachvollziehbar komponierten Dialoge sorgen dafür, dass auch die Textverständlichkeit weitgehend gewährleistet wird.
Die Regie von Hausherr Hermann Schneider, in der gelungenen Bühne von Dieter Richter, setzt auf zügig erfolgende Auftritte, hat ein Augenmaß für die gerade richtige Portion an Humor und Komik und beweist, dass moderne Opern durchaus auch unterhaltsam sein können/dürfen. Besonders gelungen ist die Szene mit der ausgelassenen Firmenfeier, bei der der von Elena Pierini geleitete Chor wie auch die Statisterie, von Meentje Nielsen farbenprächtig kostümiert, zur Bestform auflaufen.
Auch die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne – alles Hausbesetzungen – enttäuschen nicht, sondern beweisen, wie viel Energie, Können und Zeit in die Vorbereitung dieser Uraufführung investiert worden sind. Das Ergebnis ist vorbildlich. Martin Achrainer ist so in die Titelfigur hineingewachsen, dass man den Verdacht hat, dass diese alles andere als einfache Rolle vom Komponisten ihm auf den Leib, vor allem aber auf die Stimme geschrieben worden ist. Darstellerisch und gesanglich in seiner Verwandlungsfähigkeit und Ausdrucksstärke wird Achrainers gediegene Gestaltung des Bemjamin zu einem Ereignis. Nicht zu vergessen Sebastian Strasser und Gabriel Federspieler, die dem jungen Benji I und Benji II vortrefflich Stimme und Gestalt verleihen, sowie der Kinder-und Jugendchor, geleitet wiederum von Elena Pierini.
Carina Tybjerg Madsen ist zunächst als Sängerin Hildegarde Monterief eine glamouröse Erscheinung und absoviert einen mitreißende Auftritt mit einer von Reinhard Febel fein komponierten, etwas dekonstruierten amerikanischen Shownummer, dann eine liebende, verständnisvolle Ehefrau und schließlich eine geduldige, liebevolle Granny Hildegarde, die ihr ungewohntes Schicksal nicht beklagt, sondern es mit Dank und Demut für auch schöne gemeinsam verbrachte Zeiten mit Benjamin hinnimmt.
Für leichtes Gruseln am Anfang und wachsende Beklommenheit am Schluss sorgen die monströsen Kuscheltiere Harlekin (Sophie Bareis), Ente (Zuzana Petrasová), Hase (Martin Enger Holm) und Teddy (Felix Lodel), vom Librettisten Febel wahlweise auch als Götter bezeichnete Wesen. Sie repräsentieren das Geheimnisvolle, Rätselhafte und Unheimliche, das die Existenz Benjamins umfängt.
Michael Wagner als Mr. Button, Benjamins Vater, ist der Inbegriff eines pragmatischen Amerikaners, der sich rasch mit der ungewohnten Situation arrangiert, einen Sohn zu haben, der nach der Geburt sofort nach Whisky und Zeitungen schreit, während Mrs. Button (Gotho Griesmeier) ihrem Sohn ziemlich distanziert gegenübersteht und länger braucht, um mit der Überraschung einigermaßen fertigzuwerden. Ganz gelingt ihr das wohl nicht.
Matthäus Schmidlechner, Fenja Lukas und Manuela Leonhartsberger kommen als Doktor Keene und Kinder- bzw. Hausmädchen zu wiederholten Einsätzen un komplettieren, neben einer Reihe weiterer Mitwirkender, die hier ungenannte bleiben müssen, das tüchtige Ensemble.
Dem Landestheater Linz ist zu diesem gelungenen Auftragswerk und zu dessen geglückter Umsetzung herzlich zu gratulieren. Chapeau! Der Besuch einer der noch vier Vorstellungen bis Saisonende ist wärmstens zu empfehlen. Da die Oper nur 110 Minuten dauert und der Bahnhof in nächster Nähe liegt, wäre man z.B. um 23:10 Uhr schon wieder in Wien!