Angebliches-Betsy-Ross-House-Philadelphia. Foto: Helmut Huber (2004)
Linz: „LIEDER FÜR EINE NEUE WELT (SONGS FOR A NEW WORLD)“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 19. 05.2021
Musical von Jason Robert Brown, Deutsch von Wolfgang Adenberg
Untertitelung in Deutsch und mit dem englischen Originaltext
Der 1970 geborene Jason Robert Brown, inzwischen dreifacher Tony- Preisträger, feierte seinen ersten größeren Erfolg 1995 mit diesem laut Lexikoneintrag „very theatrical song cycle“ . Das Werk, das eine Abfolge von entscheidenden persönlichen Momenten quer durch die Geschichte zum Inhalt hat, wurde in New Yorks Greenwich Village im bescheidenen WPA-Theater – eine Organisation , die ihre Wurzeln im „New Deal“ F. D. Roosevelts hat – nur mit vier Bühnenpersonen und Musik in Quartettbesetzung produziert. Erstmals in Europa erklang das Stück 2001; eine umfangreicher besetzte Version gibt es seit 2008. Letztere Fassung wurde auch für die Linzer Produktion benutzt.
Ensemble: Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater Linz
Die Episoden sind:
- Akt:
„Die neue Welt“ – Ensemble: Auch in anscheinend stabilen Situationen kann ein entscheidender Moment alles auf den Kopf stellen, wie uns Covid drastisch zeigte…
„An Deck eines spanischen Segelschiffes, 1492“ – Karsten Kenzel (mit fundiertes Soul-Stimme) und Ensemble: im Original ist diese Szene an die Reise von Columbus ins Ungewisse und Unsichere angelehnt, die Dramaturgie (Arne Beeker) mutmaßt laut Programmheft hier aber (vom Text nicht gedeckt) gänzlich Anderes, nämlich eine Beziehung zur Torquemada’schen Judenvertreibung, und im Hintergrund laufende Videos versuchen gar, eine Parallele zu den überladenen Schlepperschiffen im Mittelmeer herzustellen.
„Nur ein Schritt“ – Celina dos Santos steht als reiche, aber emotionell vernachlässigte Frau im 57. Stock am Gesims eines Wolkenkratzers und versucht so, die Aufmerksamkeit ihres Gatten wiederzuerlangen. Wenn man sich dabei an Eartha Kitt’s leicht giftigen Schlager „Santa Baby“ erinnert, liegt man wohl nicht so falsch, und dieser Tangente werden wir nach der Pause erneut begegnen…
„Ich hab nie Angst“ – Judith Jandl beschreibt ihre von Ängsten geprägte und verunsicherte Umgebung – aber sagt sie uns die Wahrheit, projiziert sie nicht vielmehr ihre eigenen Ängste auf andere?
„Es sprudelt kein Fluß für mich“ – Christian Fröhlich, Lukas Sandmann, Ensemble: aus der Bahn kann man sowohl als smarter Wall Street Banker wie als Angehöriger unterster Einkommensschichten geworfen werden…
„Sterne und Mond“ – Hanna Kastner läßt uns eine 5th-Avenue-Version der Hoffahrts- und Giergeschichte „Vom Fischer und seiner Frau“ (P. O. Runge bzw. Grimm’s Märchen) mit maliziöser Eleganz, aber auch einer gewissen Angst vor der inneren Leere, miterleben.
„Sie weint“ – Konstantin Zander (der auch bei der österreichischen Erstaufführung, in der selben Übersetzung, 2014 im Wiener Off-Theater im 7. Bezirk dabei war) beschreibt die Macht, die seine Geliebte mittels ihrer Tränen über ihn hat.
Gernot Romic. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater Linz
„Der Dampfzug“ – Gernot Romic stammt in dieser Episode aus einer alles anderen als glücklichen „neighborhood“ – „von uns zehn sind schon sechs tot und drei im Gefängnis“; zusammen mit dem vollen Ensemble beschreibt er seinen Traum von der unaufhaltsamen Karriere als Fußballer (Baseball im Original), exquisites (wenn auch witzig getrickstes) „Gaberln“ inclusive. Ein eindrucksvolles Aktfinale!
- Akt:
„Die Welt tanzte“ – Konstantin Zander (mit Ensemble) erzählt von der wechselvollen Geschichte der Geschäfte und Berufe seines Vaters und deren Folgen für die Familie.
Daniela Dett. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater Linz
„Surabaya-Santa“ – Hier ist dem Autor eine köstliche Parodie auf das ohnmächtig wütende Enttäuschungschanson „Surabaya Johnny“ vorn Brecht & Weill gelungen; Daniela Dett beschwert sich hier in aller profunder, gehässiger und mitunter genau kalkuliert drolliger Form zum großen Vergnügen des Publikums (uns definitiv eingeschlossen) über einen Ehemann, der sie vernachlässigt; Verwandtschaften zur 3. Episode des 1. Aktes sind nicht von der Hand zu weisen, aber es ist ja eine alte Weisheit, daß die Geschichte sich wenn, dann gerne als Farce wiederholt.
„Wiegenlied zur Weihnacht“ – Judith Jandl entdeckt ihre Schwangerschaft und glaubt (nicht ohne geistliche Unterstützung), daß ihr Kind ähnlich dem der Jungfrau Maria die Welt verändern werde.
„König der Welt“ – es geht um ein (tatsächliches oder metaphorisches) Gefängnis, aus dem Lukas Sandmann befreit werden will, denn er sei für die Welt sooo unverzichtbar… Titel und setting dieses Kapitels könnten auf den James-Cagney-Film „White Heat“ verweisen, aber der Gefangene besteht auch auf eine starke spirituelle Motivation.
„Das alles gäb ich her“ – Christian Fröhlich und Hanna Kastner kommen nicht voneinander los, auch wenn sie eine Trennung versuchten.
„Die Flaggenmacherin, 1775“ – Das Damenensemble, angeführt von Daniela Dett, welche die Rolle der Betsy Ross, legendärer Erfinderin der „Stars and Stripes“, einnimmt, arbeitet an dieser Flagge, während die männlichen Angehörigen der Frauen im Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten stehen.
„Ich fliege heim“ – Karsten Kenzel ist ein gefallener Soldat, dessen Leiche nach Hause geflogen wird, und dessen Seele in ein anderes Leben hinübergleitet.
Mit „Hör mein Lied“ verabschiedet sich das Ensemble mit einer hoffnungsvollen Note.
Nicht zu vergessen Nina Weiß, die immer wieder wichtige Soloakzente setzt.
Ensemble. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater Linz
Browns Musik verarbeitet Einflüsse aus Pop, Gospel und Jazz – oft klingen die Kompositionen ähnlich Einspielungen des in diesen Gefilden tätigen exzellenten britischen Musikers Joe Jackson, der in den 1990ern recht bekannt war. Manche der Nummern sind – textlich wie musikalisch – allerdings von einer Art triefendem Optimismus gekennzeichnet, ohne irgend einen Anflug von Relativierung oder Ironie. Wobei sich die Übersetzung recht eng an den Originaltext zu halten scheint.
Im fünfköpfigen Orchester (p, syn, g, perc, dr) spielt das Klavier (Tom Bitterlich, auch Dirigat und eine kleine, seit der Uraufführung traditionelle Gesangseinlage) die dominante Rolle. Die instrumentale Seite funktioniert jedenfalls tadellos, auch seitens der Tontechnik, was man aber nicht für die Gesangsverstärkung sagen kann – meistens wirken die Stimmen recht undeutlich und distanziert, wie wenn deren Lautsprecher irgendwo hinter dem Orchester stünden. Wie gut Darstellerinnen und Darsteller wirklich klingen und artikulieren, merkt man erst, wenn sie nahe der Rampe stehen und der direkte Klang ihrer Stimmen ans Ohr gelangt.
Für Inszenierung, Choreografie, Bühne und im Hintergrund laufende Illustrationen zeichnet (in letzterem Falle buchstäblich) Simon Eichenberger verantwortlich: er hat das klein gedachte Kammerstück auf eine große Bühne gesetzt, ohne daß es dabei zerfledderte; mit einigen Requisiten kann sogar ein dramaturgisch dichter Raum erzeugt werden, wenn nur eine Person allein agiert. Eine Brücke dominiert den hinteren Bühnenraum, unter der die Band Platz findet. Eingerahmt und auf ein für das kleinere Ensemble passendes Maß verschmälert wird das Arrangement durch symmetrische seitliche Treppen. Der Boden des Orchestergrabens ist meist auf Bühnenebene hochgefahren. Die Interaktionen der Personen laufen plausibel und präzise ab. Die Kostüme von Richard Stockinger halten sich an die textlichen Vorgaben. Videozuspielungen: Jonatan Salgado Romero.
Vor Beginn der Vorstellung begrüßte Intendant Hermann Schneider das im Saal nach Schachbrettmuster verteilte Publikum zurück aus dem lock-down mit einer kurzen und präzisen Reflexion über die soziale Funktion des Theaters. Er erhielt großen Applaus, fast etwas mehr als die Aufführung insgesamt – wobei aber einige der Individualleistungen sehr große Begeisterung hervorriefen.
Petra und Helmut Huber