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LINZ/ Landestheater: UNTER DEM GLETSCHER . Musiktheater von Hermann Schneider, Musik von Michael Obst. Uraufführung

22.05.2022 | Oper in Österreich

Linz: „UNTER DEM GLETSCHER“ – Uraufführung am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 21. 05.2022

Musiktheater von Hermann Schneider nach dem Roman Am Gletscher (Kristnihald undir Jökli) von Halldór Laxness, Musik von Michael Obst; Auftragswerk des Landesheaters Linz.

In deutscher Sprache mit deutschem Mitlauftext

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Anna Alàs i Jové. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Halldór Kiljan Laxness, ursprünglich Halldór Guðjónsson, wurde 1902 in Reykjavik in eine wohlhabende evangelische Familie geboren. 1923 ließ er sich auf einer seiner zahlreichen Europareisen katholisch taufen, in einem Kloster in Luxemburg, und nahm als Taufnamen des des hl. Kilian, eines irischen Mönchs, an. „Laxnes“ (Lachshalbinsel) ist der Name des Hofes, auf dem er aufwuchs. Sein Werk umfaßt zahlreiche Romane, aber auch Lyrik und  journalistische Arbeiten. Er ließ sich vom Expressionismus und Surrealismus beeinflussen, auch vom Marxismus; letzteren legte er aber gegen Ende der 1950er ab. Der Roman, der dieser Oper zugrunde liegt, stammt von 1968. Er wurde 1980 von Laxness‘ Tochter  Guðný Halldórsdóttir verfilmt. Der Autor, der als erster Isländer in der Literatur Weltgeltung erlangt hatte, 1955 sogar den Nobelpreis erhielt, starb in seiner Heimat im Alter von fast 96 Jahren.

Wir befinden uns am Rand des Snæfellsjökull, einem geologischen Bruder des seit 2010 weltweit unliebsam bekannten (und sicher schlecht gesanglich einzubauenden) Eyjafjallajökull. Den Snæfell hatte schon Jules Verne als Ausgangspunkt seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde gewählt, und noch dazu treten über diesem Berg besonders häufig Lentikularwolken auf, die gerne als UFOs gedeutet werden. Dieser Vulkangletscher ist auch schon seit Jahrhunderten Mittelpunkt isländischer Sagas und Mythen. Diese „Fußnoten“ zum Berg finden auch ihren Niederschlag im Libretto.

Dies dreht sich um einen evangelischen Priester, der sich vom amtlichen Gottesbetrieb samt kirchlichem Salär verabschiedet hat und Seelsorge wie Lebensunterhalt in der Reparatur von – für das Leben in einer nicht einfachen Umgebung sicher wichtigen – Geräten und in der Expertise für Nutztierhaltung sieht. Seine Frau ist ihm irgendwie abhanden gekommen, aber er hat zumindest eine neue und Haushälterin gefunden. Dazu gibt es den eher verharrenden Ortskirchenvorstand, einen beinharten Trucker und einen etwas verworrenen Pferdebesitzer. In diese eigenwillige, aber funktionierende Gesellschaft kommen nun ein junger, (noch) naiv an die Kirche und ihre Gebote glaubender bischöflicher Visitator, ein rätselhafter, nicht allen Fremder mit einer noch rätselhafteren Kiste und drei tief in Mystik (und wohl auch nicht ganz legale Substanzen) verstrickte angebliche Hirten. Auch taucht die verschollene erste Gattin des Pfarrers wieder auf, nach einer bunten Karriere zwischen Nonnenkloster und Bordell. Und es wäre nicht Island, würde nicht zum düsteren Ende auch ein Troll eine Rolle spielen…

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Matthäus Schmidlechner, Martin Achrainer, Anna Alàs i Jové. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Die Inszenierung übernahm Intendant und Textautor Hermann Schneider – im Gegensatz zur Linzer Aufführung der „Anderen Seite“ vom selben Autorenduo, nach dem Roman von Alfred Kubin, die ein Gastregisseur fundamental umgestaltete, kann man sich hier also sicher sein, daß das Bühnenerlebnis im Sinne des Librettisten gestaltet ist. Zusammen mit Falko Herold (Bühne, Kostüme und Videodesign) wird ein naturalistischer ärmlich-schäbiger Außenposten Islands gestaltet, wobei sich allerdings dann nach der Pause eine überraschend moderne Wohnumgebung aus dem Gletscher schält – durchaus im Einklang mit der Handlung. Die Kostüme passen schlichtweg naturalistisch, bzw. sind bei den entsprechenden Figuren schräg und witzig übertrieben. Choreografie Hannah Moana Paul (betrifft einige turbulente Gesangsensembles), dramaturgische Betreuung Katharina John.

Michael Obsts Musik ist zwar mit allen modernen Techniken gearbeitet, aber verarbeitet immer wieder Elemente aus isländischer Folklore, leiht sich auch das eine oder andere von Björk bis Wagner aus. Dazu taucht einmal ein köstliches Barbershop-Trio auf, es wird gejazzt – überhaupt ist das Orchester auch reich an Schlaginstrumenten. Einigen Charakteren sind Instrumente zugordnet – dem Pfarrer ein Alt-, der Ua das Tenorsaxophon, dem Dr. Syngman die Trompete etc. Insgesamt ein akustisch recht ansprechendes Werk, wenn auch nicht ohne Längen. Es spielt das Bruckner Orchester unter Ingmar Beck – wie nicht anders zu erwarten mit Präzision und Gefühl, man schafft Atmosphäre, mitunter eine ganze surreale Welt, und bleibt (fast) immer in makelloser Einheit mit der Bühne.

Die eigentliche Hauptperson ist „Vebi“, also der visitierende Vertreter des Bischofs; Anna Alàs i Jové stellt diese Rolle mit ihrem wunderschön timbrierten, kontrollierten, kraftvollen Mezzo nicht nur stimmlich intensiv dar, sondern auch mit überzeugendem Schauspiel, das die profunde Änderung ihrer Figur im Ablauf der Handlung widerspiegelt.

Tumi Jonson, Kirchenvorsteher, ist Dominik Nekel mit elegantem Spielbass. Oft tritt er zusammen mit dem ewig seine Pferde zusammensuchenden Bauern Helgi (Matthäus Schmidlechner) und dem alkoholgestützt durchgeknallten LKW-Fahrer Alfberg (Martin Achrainer) auf – sie bilden ein darstellerisch unterhaltsames und sängerisch perfekt abgestimmtes Terzett ähnlich den Färbersbrüdern in der „Frau ohne Schatten“ 2017.

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Fenja Lukas. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Ihnen gegenüber steht das Damentrio Vaida Raginskytė (Frau Jonson), Tina Josephine Jaeger (Opernstudio; Stieftochter Fina) und Fenja Lukas als „Stößeldora“, die Haushälterin des Pfarrers, mit gleicher gesanglicher und schauspielerischer Qualität. Frau Lukas ließ sich wegen einer abklingenden Erkältung ansagen, bot aber keine ohrenfällige Beeinträchtigung.

Ein durchziehendes Hippiekleeblatt zwischen Esoterik und LSD gerät ebenso in die Handlung, die nicht alle überleben. Sie werden köstlich charakterisiert und stimmlich eindrucksvoll  gebracht von den Opernstudiomitgliedern Peter Fabig (Saknussem II. – eine Bezugnahme auf Jules Verne) und Michael Daub (Epimenides, merklich weniger Philosoph als sein Namensvorbild) und dem Chorsolisten Domen Fajfar, irgendwo zwischen Johnny Depp und Zucchero gestaltet als „Der Tropfen“.

Auch die  Personen, um die sich die grundlegende Geschichte entwickelt, sind deren drei.  Nomineller Gemeindepfarrer Sira Jon Primus, Hufschmied und universeller Hausmeister, pardon, Serviceexperte, der seinen Nachnamen vom meist reparierten Benzinbrenner nimmt, ist Michael Wagner, der scheints mit seinem Gurnemanz noch mehr stimmliche Statur erworben hat – hervorragend, samt seiner hintergründig humorvollen Darstellung! Seiner verschollen gewesene Frau Ua wird von Gotho Griesmeier eindrucksvolle Erscheinung und tragfähige Stimme gegeben. Erfinder Syngman (kennt man diesen Namen nicht eigentlich aus der koreanischen Geschichte??) ist der Charaktertenor Hans Schöpflin, der in dieser Rolle, anders als im „Bettelstudent“ 2019, paßgenau eingesetzt ist und trotz teils schwieriger akustischer Verhältnisse der Bühne bei seinen Auftritten stimmlich beeindruckt, schauspielerisch sowieso.

Ein Bergtroll (stummes Video, schaurige Maske, bedrohliches Bewegungsmuster) ist Klaus Müller-Beck.

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Schlussapplaus mit Komponist. Foto: Petra und Helmut Huber

Der Applaus nach gut 3 Stunden Gesamtdauer ist nicht rasend enthusiastisch (ausgenommen für Frau Alàs i Jové, Herrn Wagner sowie auch Dirigent und Orchester, die Bravorufe kassieren), aber es gibt auch keine hörbaren Mißfallenskundgebungen. Wobei allerdings zur Pause vielleicht 25 % der Zuschauer das zu Beginn weitestgehend vollbesetzte Haus verlassen haben.

Petra und Helmut Huber

 

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