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LINZ/ Landestheater: TITANIC – Musical von Maury Yeston nach dem Buch von Peter Stone, Premiere

07.02.2022 | Operette/Musical

Linz: „TITANIC“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 06. 02.2022

Musical mit dem Buch von Peter Stone, Gesangstexte und Musik von Maury Yeston; deutsche Übersetzung von Wolfgang Adenberg

Mit Untertiteln in Deutsch und Englisch

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Copyright: Barbara Palffy

John Wanamaker war ein ideenreicher Geschäftsmann, der seit den 1870er-Jahren in Philadelphia und dann auch in New York nach ihm benannte Warenhäuser betrieb; angeblich geht der Ausdruck „Department Store“ auf ihn zurück. Eine riesige Orgel, die auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 Furore machte, ließ er danach in sein Geschäft in Philadelphia einbauen, später erweitern – sie ist heute das größte funktionsfähige Instrument der Welt und wird nach wie vor täglich gespielt. Ebenso interessierte er sich für neueste Kommunikationstechniken, und daher wurde 1910 von der Firma Marconi eine Funkanlage in den Wanamaker-Häusern installiert. Sie sollte zur internen Kommunikation dienen, aber es wurden auch Nachrichten von außerhalb empfangen, sogar schon „online-Bestellungen“ von Schiffspassagieren, die die Ware bei Ankunft im Hafen vorfinden würden. In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912, als aus den Signalen, die vom Atlantik kamen, abzulesen war, daß sich eine große Schiffskatastrophe abspielte, gingen von Wanamaker die ersten Veröffentlichungen des Geschehens aus. Damaliger Leiter des Marconi-Dienstes bei Wanamaker war David Sarnoff, später jahrzehntelang Generaldirektor von RCA, und damit auch – mit RCA-Victor – Herr über einen wesentlichen Teil des Tonträgermarktes der Swing-Ära (Tommy Dorsey, Duke Ellington, Benny Goodman, Glenn Miller, Artie Shaw u. v. a. m.) oder der großen Zeit der „alten“ Metropolitan Opera. Wanamaker ist heute Teil von Macy’s, das seit 1896 der Familie Straus gehörte – und ein Mitglied letzterer, Isidor Straus, wurde zusammen mit seiner Gattin Opfer der Titanic-Katastrophe…

Diese gilt heute, aus der Übersicht im Rückspiegel, als ein Menetekel zum Ende des „eleganten“, von großen Kolonialreichen und technischer Revolution geprägten Zeitalters – das natürlich bei weitem nicht für die gesamte Bevölkerung, weder der alten noch der neuen Welt, elegant war. Schon damals war die Erschütterung, auch in philosophischer Hinsicht, ähnlich fundamental wie knapp 160 Jahre davor beim Erdbeben von Lissabon, zumal auch das Schiff, wenn nicht von Werft und Reederei, so zumindest von der Presse, als unsinkbar bezeichnet worden war. Bis heute hält das Interesse an diesem Unglück an, befeuert auch von Eugene Ballards spektakulären Tauchgängen zum Wrack 1985, Titanic-Diners, das kleinste Museum zum Thema (www.titanicmuseum.at) und immer neuen Verfilmungen.

Schon ab Mai 1912 wurden ein 35-minütiger, für damals überdurchschnittlich langer, deutscher Film, „In Nacht und Eis“, Uraufführung im August des Jahres, sowie ein Kurzfilm mit einer der Überlebenden hergestellt. Der erste Tonfilm 1929 war eine internationale Koproduktion, 1943 wurde das Thema von der UFA propagandistisch angegangen – allerdings war Regisseur Herbert Selpin nicht linientreu genug, was er nicht überlebte; nichtsdestoweniger bestimmte die Erzählweise dieses Films den Duktus aller zukünftigen Verfilmungen. Zehn Jahre später wurde von der 20th Century Fox das Thema verfilmt, und 1958 in Großbritannien – letzteres als bislang genaueste Rekonstruktion der Geschichte; dabei wurden einige Tricksequenzen des deutschen Films von 1943 verwendet. James Cameron’s Riesenprojekt von 1997 war beileibe nicht der letzte Titanic-Film; Leonardo di Caprios exzellentes Schauspiel ist in vielen anderen Filmen u. E. allerdings weit besser eingesetzt…

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Im nämlichen Jahr hatte auch das Musical zum Schiffswrack seine Uraufführung, und zwar am 23. April im Lunt-Fontanne-Theater Broadway; es lief dann fast zwei Jahre. Die Handlung hält sich weitestgehend an Protokolle der Seegerichte – nicht zuletzt mit der Thematik des Funkverkehrs, der damals nicht den Reedereien, sondern den auf den Schiffen eingemieteten konkurrierenden, kommerziellen Radiounternehmen unterstand, was zur Vernachlässigung von Eisbergwarnungen zugunsten von Privatpost und zur Kontaktblockade mit der nahen SS Californian führte. Die Personen der Handlung sind ebenfalls großteils historisch. Die Deutsche Erstaufführung fand 2002 in Hamburg statt, die österreichische 2012 in Staatz auf der Felsenbühne (https://onlinemerker.com/staatz-no-felsenbuhne-titanic-musical-triumph-trotz-widrigem-wetter-premiere/).

Fand damals Dr. Peter Dusek die begeisterte Mitwirkung des ganzen Ortes eine der Stärken der Aufführung, so „muß“ das Linzer Landestheater auf andere Möglichkeiten zurückgreifen: Bühnenbildner Charles Quiggin freut sich (im dieser Produktion gewidmeten „Sonntagsfoyer“ der Freunde des Musiktheaters) darüber, die exquisite Maschinerie des Musiktheaters umfänglich nutzen zu können. Die Besetzungsliste wird weit über das existierende Musicalensemble erstreckt – unter anderen mit schon früher hier Engagierten, die als Gäste wiederkehren. Und Tom Bitterlich freut sich, ein „richtiges“ Orchester (36 Positionen, u. a. mit großem Streichercorpus und einer Harfe), dirigieren zu können – bei neueren Musicals eine extrem seltene Ausnahme.

Inszenierung und Choreografie: Simon Eichenberger. Er schafft es, in diesem gewaltigen plot und den gewaltigen Personenzahlen Übersicht zu wahren und die Balance zwischen Massenszenen und den immer wieder eingestreuten, sorgfältig gezeichneten Individualportraits zu halten; vor allem vermeidet er auch, besonders in den letzten düsteren Momenten des Geschehens, daß die Sache in Klischee und Kitsch abgleitet.

Charles Quiggin hat ihm dazu ein mittels zahlreicher Hubpodien vielfältig wandelbares groß angelegtes set gebaut, das nicht nur historisch korrekt auf Details der Titanic eingeht, sondern auch immer wieder Brennpunkte des Geschehens fokussiert, mitunter auf unterteilter Bühne. Wir sehen in die Kommandobrücke, wir sehen dem Funker über die Schulter, wir besuchen das Zwischendeck, wir ringen mit den Heizern um Atem – die theatralischen Nebelmaschinen sind in dem Moment allerdings etwas zu fett eingestellt, sodaß sich eine dichte Wand zwischen Dirigent und Bühne legt. Was aber der darstellerischen Präzision keine Abbruch tut: gut geprobt! Für das Finale hat Quiggin auch eine feine Lösung gefunden, die das nasse Grab des Schiffs und so vieler seiner Insassen mit dem legendären letzten Stück Musik, das das Bordorchester spielt, verknüpft.

Kongenial dazu die Kostümgestaltung durch Aleš Valášek – sorgfältigst recherchierte Mode anno 1912, und dabei noch mit genauer Beachtung der damals quasi unumgänglichen „klassenspezifischen“ Merkmale. Von echten, nonchalant Eleganten bis zu aufgedonnerten Aufdringlichen, im Kontrast zu den „kleinen Leuten“, die mit viel Mühe auch ein bissl was darstellen wollen: all das in exzellenter Abstimmung mit den geschilderten Persönlichkeiten.

Das meiste am Lichtdesign von Michael Grundner halten wir für sehr gut gelungen – nur gegen Ende, als das Schiff schon beachtliche Schräglage zeigt (und die Dynamos wohl nicht mehr mit voller Kraft liefen), könnte die Lichtintensität noch zurückgenommen werden.

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Copyright: Barbara Palffy

Die Dramaturgie (Arne Beeker) hat, samt Textprojektion und exzellent gestaltetem Programmheft, wieder ganze Arbeit geleistet. Nur eine Frage bleibt offen: wieso werden alle Namen der großteils angloamerikanischen Passagierschar und Besatzung korrekt-anglophon ausgesprochen, auch die Schiffsnamen „Californian“ und „Carpathia“, während das titelgebende Schiff stets quasi teutonisch [titanik], nicht [taitænik] heißt?

Bei den schauspielerischen bzw. gesanglichen Leistungen ist zuerst einmal festzuhalten, daß hier, aus Stammpersonal wie Gästen und Chorsolistinnen und -solisten, ein durchgängig und sozusagen gleichförmig exzellentes Ensemble gebildet wurde, das keinerlei Schwachstellen aufweist.

Kapitän E. J. Smith erhält durch Dean Welterlen nobles, aber schon etwas müdes Profil – er will sich nicht mehr zu sehr mit dem fordernden und auf Rekordleistungen bestehenden Reeder J. Bruce Ismay (Karsten Kenzel) anlegen. Der von Zuversicht über Zweifel bis zu Selbstvorwürfen changierende Schiffskonstrukteur Thomas Andrews ist David Arnsperger mit großer Stimme.

Die Tenorrollen Heizer Frederick Barrett (Christian Fröhlich) und Funker Harold Bride (Lukas Sandmann) haben eine feine Szene miteinander (es geht um eine schließlich doch nicht prohibitiv teure Nachricht an Barrett’s Mädchen), in der der schöne Satz fällt „Romantik und Telegraphie gehen nicht zusammen“ – sie tun es schließlich doch! Im Epilog hat Bride noch einmal eine führende Rolle, die Sandmann stimmlich überzeugend gestaltet.

Auch auf einem dem Untergang geweihten Schiff muß es ein Komikerpaar geben – freilich unvermeidlich mit tragischen Facetten: Edgar Beane (Sam Madwar), allzu (?) bescheidener Eisenwarenhändler, mit seiner societysüchtigen Gattin Alice, die durch Daniela Dett rastlos umtriebige Gestalt und Stimme bekommt.

Chefsteward Henry Etches ist durch Christian Bartels eine vielschichte, feine Studie eines Würdigen und Pflichtbewußten, der in außerordentlichen Situationen über seine sonst streng gewahrte Disziplin und Zurückhaltung mit philosophischer Abgeklärtheit hinauswachsen kann – eine der eindrucksvollsten Gestalt(ung)en des Abends.

Ausguck – Eisbergsichtung! – Frederick Fleet ist der Tenor Joel Parnis, für den die Bühnengestaltung einen passend exponierten Posten gefunden hat. Das schlußendlich durchs Schicksal begünstigte Liebespaar im Zwischendeck, Jim Farrell und Kate McGowan, erhält durch Gernot Romic und Hanna Kastner sympathisch blühendes Leben.

Weitere Solos (teils mit mehreren Rollen): Peter Lewys Preston, Niklas Schurz, Michael Souschek, Max Niemeyer, Domen Fajfar, Ulf Bunde, Bonifacio Galván, Elias Poschner, Marius Mocan, Markus RaabTomaz Kovacic, Judith Jandl, Willemijn Spierenburg, Stephanie Pena-Neuhauser, Clemens Herndler, Sebastian Strasser, Linda Krischke, Amy van Looy, Vaida Raginskytė, Nina Weiß, Celina dos Santos.

Schließlich als menschliche Quintessenz der Katastrophe: Die stoische Resignation, getragen von tiefster gegenseitiger Liebe, die Ida und Isidor Straus (Luzia Nistler und Martin Berger) ohne Sentimentalität verkörpern, bewegt tief, kann vielleicht sogar zu Tränen rühren.

Der Chor des Landestheaters Linz unter Elena Pierini schafft die breite und präzise Basis für die Sololeistungen. Das Bruckner Orchester Linz setzt unter Herrn Bitterlich die Partitur, deren Klangwelt im Dreieck zwischen John Williams, Leonard Bernstein und Aaron Copland wurzelt, in der aber auch Platz für Ragtime und für einen romantischen Walzer ist, mit der ganzen Klangkultur eines erstklassigen Symphonieorchesters und der Präzision des erfahrenen Musiktheater-Klangkörpers um. Der Walzer freilich wird durch den Anprall am Eisberg jäh unterbrochen.

Tosende Begeisterung und standig ovation für Bühnenpersonal, Musik und Produktionsteam samt Inspizienz (Susanne Pauzenberger), die aufgrund des reibungslosen komplexen Ablaufes verdientermaßen ebenso zum Applaus auf die Bühne gerufen wird. Eine extrem aufwendige Produktion, deren Besuch in jedem Falle lohnt – auch wenn man kein expliziter Musical-fan ist!

Petra und Helmut Huber

 

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