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LINZ/ Landestheater: Sidi Larbi Cherkaoui und TANZ.LINZ mit „FALL / ORBO NOVO“

03.03.2025 | Ballett/Performance

LINZ/ Landestheater: Sidi Larbi Cherkaoui und TANZ.LINZ mit „FALL / ORBO NOVO“

„Wie will ich leben?“ Unter dieses Motto stellte das Landestheater Linz seine Spielzeit 2024/25. Kaum jemand verkörpert es mit seinem Schaffen so wie Sidi Larbi Cherkaoui, einer der derzeit wichtigsten zeitgenössischen Choreografen, den die künstlerische Leiterin der Kompanie TANZ LINZ, Roma Janus, an das Landestheater Linz lud und somit den (vorläufigen) Höhepunkt ihrer noch jungen Karriere als Ballettchefin markierte.

Cherkaoui, seine belgisch-marokkanischen Wurzeln prägen sein Leben, sein Werk, seine Arbeitsweise und seine Haltung maßgeblich, studierte, unterstützt von seiner langjährigen künstlerischen Begleiterin Acacia Schachte, zwei höchst unterschiedliche Stücke mit der Kompanie TANZ LINZ ein und vermittelt damit einen Einblick in die Bandbreite seines Schaffens. Die Live-Musik kam vom Bruckner-Orchester Linz unter der Leitung von Marc Reibel.

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Im Oktober 2015 an der Oper Gent uraufgeführt ist „FALL“ ein von der Natur inspiriertes Stück mit – für den Choreografen – ungewöhnlich vielen klassischen Elementen. Mit Kostümen von Kimie Nakano, in dem vom Landestheater Linz adaptierten Bühnen- und Lichtdesign von Fabiana Piccoli und Sander Loonen und zur Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt entsteht ein vielschichtiges, weit über die Abbildung natürlicher Prozesse hinaus reichendes Bild.

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Sidi Larbi Cherkaoui FALL © Philip Brunnader 

Cherkaoui wählte für diese Arbeit drei Kompositionen Pärts: „Fratres“, „Spiegel im Spiegel“ und „Orient und Occident“. Das Letztgenannte insbesondere repräsentiert mit seinen vom Streichorchester gespielten Verschränkungen von mitteleuropäischen und arabischen Klängen neben Cherkaouis familiären Wurzeln auch seine die Kulturen verbindende künstlerische und menschliche Intention.

Der als ein bedeutender Vertreter des Minimalismus bekannte Komponist hat, zum Beispiel, mit seinen gebrochenen, vom Piano gespielten Dreiklängen, auf die er Violinen-Linien setzte, mit handwerklich weniger auf Virtuosität setzenden Mitteln trotzdem technisch anspruchsvolle Musik komponiert. Die geforderten feinen Nuancierungen des Klanges der Töne, den Streicher zum Beispiel gibt Pärt in seiner Komposition vor, wo der Bogen auf die Saiten zu setzen ist, um ganz spezifische Klangbilder zu erzeugen, und die harmonisch-melodischen und rhythmischen Finessen der Kompositionen (am Klavier der Dirigent Marc Reibel selbst, an den Violinen Tomasz Liebig und Jacob Meining) gelingen den Solisten und dem Streichorchester fabelhaft.

Elegische, von äußerster Reduktion geprägte Klangwelten mit einer alles durchdringenden Melancholie. Wie die Stimmung der Musik, so auch die des Tanzes. Für diese Arbeit im neoklassischen Stil verzichtete der Choreograf auf die Verwendung von Spitzenschuhen und verlieh dem Tanz damit eine mit dem Schwermut der Musik interagierende Fragilität. Auf den Ballen tanzen. Noch erdver- und gebundener wird das Streben ins Licht. Vielgestaltig ist die Tanzsprache. Zwischen Athletik und physischer Introspektion entführt uns die Kompanie in Soli, Duetten, Kleingruppen und Ensemble-Szenen in eine fantastische, mit dem Wie das Auge beeindruckende, mit dem Was das Herz berührende Welt.

Die Kompanie, gemeinsam mit ihr stehen sechs Tänzerinnen der Oberösterreichischen Tanzakademie auf der Bühne, bevölkert diese in ständigem Wechsel und variierenden Konstellationen. In einen schlichten Kubus gießt Cherkaoui den Tanz. Der die Bühne rahmende weiße Satin fließt wie Wellen auf dem Wasser, wie von Winden leicht bewegt, wie züngelnde Flammen oder wie die Verheißung einer dahinter verborgenen, jenseitigen, viel größeren Wirklichkeit.

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Sidi Larbi Cherkaoui FALL © Philip Brunnader 

Sie tanzen in individuell leicht verschiedenen, häufig gewechselten erdbraunen, himmelblauen und blassgrünen Kostümen. Ob das virtuose Spiel mit der Schwerkraft, das Fallen von Blättern und ihr Tanz im Herbstwind, Fische im Wasser oder Pflanzen, von Herbststürmen in ihre vorwinterliche Agonie gepeitscht, oder ob der Tanz von Elfen, ob Spiegelungen, Echos und ständig sich verändernde Wiederholungen, alles ist nur Bild für etwas viel Größeres.

Der Herbst ist die Zeit der Reife, der Sammlung, des Abschieds und des Rückzugs. Das Zyklische aller lebendigen Prozesse, die in sich schon die Saat für die Erneuerung auf einer anderen, höheren Stufe tragen, findet in jedem FALL sein Portal für eine immer wiederkehrende Transformation. Diese Wandlungen von Form, Struktur oder Gestalt finden auf allen Ebenen statt. Ob gesellschaftlich oder politisch, ob ökonomisch, sozial, individuell, physisch, psychisch, seelisch oder spirituell: Der Wandel ist das Wesen des Lebens. Und das ist ewig. In ständiger Erneuerung nur sind seine physischen Repräsentationen.

Das Leben mit seiner Schwere und der Sehnsucht nach Leichtigkeit wird in dieser Choreografie zu einer Durchdringung von Klassischem und Zeitgenössischem, von Tradition und Moderne, von Bewahren und Erneuern, Ordnung und Freiheit, von dem Himmel Zustrebendem und dem Boden Verbundenem, von Vergangenheit und Zukunft, Gemeinschaft und Einsamkeit, von Diesseits und Jenseits. Das Erdige im Fallen, das Luftige im Aufstrebenden, als würden sie zwischen den Welten sich bewegen, von beiden angezogen und abgestoßen zugleich, zu keiner von beiden gehörend oder doch zu beiden.

Die poetische Kraft dieses Stückes und seine tiefe Spiritualität, seine komplexe Metaphorik, der meisterliche Tanz der Kompanie, die Musik und deren Interpretation durch Solisten und Orchester und die alles durchdringende Melancholie überwältigen. Im Wissen um die Vergänglichkeit alles Seienden wird „FALL“ zu einer zärtlichen, emotionalen Feier des Seins und des gegenwärtigen Moments. Und der enthält alles. Wie unten so oben. Pars pro toto.

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Sidi Larbi Cherkaoui FALL © Philip Brunnader

Das Schlussbild zeigt noch einmal die einzigartige poetische Potenz Sidi Larbi Cherkaouis. Und seine Weisheit. Vor dem rückwärtigen, halbtransparenten Vorhang liegen Menschen im Dunkel. Hinter ihm, im Licht, stehen TänzerInnen. Der Vorhang hebt sich leicht, sie schreiten in den Bühnenraum. Als lüftete sich für sie der Schleier der Maya (eine zentrale Figur der indischen Philosophie). Alles Duale und jedes Ego sind damit überwunden, alle Trennung von der Wirklichkeit Vergangenheit. Das ist seine Vision vom Menschen. Und dieser Mensch ist Frieden. Die TänzerInnen sind die Erkenntnis und das Wissen. Sie tragen diese zu den Niedergedrückten vorn im Schatten. Zu uns.

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„Jede psychische Krankheit hat eine physische Ursache.“ Diese ihre feste Überzeugung war die Grundlage für eine große Anzahl von Publikationen und Vorträgen. Die international bekannte und gefragte Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor erlebte dann allerdings, am Morgen des 10. Dezember 1996, einen Schlaganfall, der ihre linke Hirnhälfte komplett funktionslos hinterließ. Ihre bei diesem Ereignis selbst und die während der acht Jahre dauernden Rehabilitation gemachten Erfahrungen beschrieb sie in ihrem Buch „My Stroke of Insight“ (deutsch „Mit einem Schlag. Wie eine Hirnforscherin durch ihren Schlaganfall neue Dimensionen des Bewusstseins entdeckt“), das den Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui zutiefst beeindruckte und ihn zu dem Stück „ORBO NOVO“ inspirierte.

Sechs Jahre vor „FALL“ für das Cedar Lake Contemporary Ballet (New York) geschaffen und im Juli 2009 uraufgeführt, entführt uns das Werk in die „Neue Welt“ einer vieler wichtiger Hirnfunktionen beraubten Frau. Mit umfänglichen, an den Anfang choreografierten deutsch und englisch gesprochenen poetischen Zitaten aus Taylors Buch, die ihre Wahrnehmungen eindrücklich beschreiben, im Lichtdesign von Jim French und in einem Bühnen-Setting von Alexander Dodge, der mit vier fahrbaren, jeweils zweiteiligen Gitter-Elementen ein äußerst flexibles, von den TänzerInnen bespielbares und in seiner Bildsprache gut lesbares Bühnenbild erschuf, erwacht das Innere der Hirnforscherin zu neuem, hier zu einem Bühnen-Leben.

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Sidi Larbi Cherkaoui ORBO NOVO © Philip Brunnader

Der vollständige Ausfall ihrer linken Hirnhälfte veränderte die Wahrnehmung ihrer selbst und der Welt grundlegend. Die Funktionalität des normaler Weise aus zwei miteinander kommunizierenden Hemisphären bestehenden gesunden Gehirns erfuhr massive Einschränkungen einerseits (Verlust der Sprache, der Gesichtserkennung und vieles Weiteren), andererseits jedoch auch überraschend Neues. Beides präzise beobachtet und später niedergeschrieben von einer Koriphäe dieses Fachgebietes.

Das Neue aber brachte ihr Selbst- und ihr Welt-Bild nicht nur ins Wanken, es stellte es auf völlig andere Fundamente. Der Materialismus als einstig dominante Ideologie verlor seine Daseinsberechtigung unter der Wirkung einer vordem nicht erlebten Spiritualität. Durch die Trennung von dem, was uns die linke Hemisphäre glauben macht, wird Erkenntnis vom Selbst, von Welt und dem Prinzip Leben möglich. „Ich fühlte Euphorie!“

Der Verlust all dessen, was wir als unsere Identität bezeichnen, konstituierte eine „Neue Welt“ für die einstmals die Macht des Ratio anbetende Wissenschaftlerin. Die Erfahrung ihrer selbst als Teil einer all-einen Welt wurde ermöglicht durch die Stilllegung von im Allgemeinen höchst willkommenen Struktur-, Informations- und Geräusch-Narkotika, willkommen geheißen für die Verhinderung der Selbst-Wahrnehmung und der Bewusstwerdung von ungeliebten Persönlichkeitanteilen. Wirkmächtiger noch war das Abhandenkommen der inneren Aufspaltung in rechts und links, Struktur und Intuition, Ratio und Emotio.

Folgerichtig ist die Entdeckung der Spiritualität und mit ihr einer anderen, größeren Dimension des Seins. Wesentlich auch waren die sich ändernden Überzeugungen von ihr selbst. „Ich bin perfekt, vereint und schön.“ Bis dorthin allerdings musste sie durch die Phase der Bewusstwerdung ihres zerebralen Problems. Die Choreografie veranschaulicht den Stunden währenden Prozess der zunehmenden Störungen normaler Hirnfunktionen, nicht ganz ohne Humor. Die sich anschließende lange Rehabilitation wird zum Bild von einer sich heilenden Persönlichkeit und ihrer Positionierung in einer unheilvollen Um-Welt.

Seine Musik hat der polnische Komponist Szymon Brzóska eigens für diese in Teilen neu erarbeitete Produktion mit TANZ.LINZ für das Orchester neu arrangiert und erweitert. Im perfekten Zusammenspiel mit der parallel überarbeiteten Choreografie entfalten die Klänge eine enorme emotionale Wucht. Die SolistInnen Tomasz Liebig (Violine), Laura Jungwirth (Viola) und Benedikt Ofner (Klavier) sowie das Bruckner-Orchester unter Marc Reibel treffen den Geist der Komposition und den der Choreografie in seinem Zentrum.

Die Kompanie zeigt, hier in völlig anderem Duktus als in „FALL“, erneut ihre Klasse. Welche Meisterschaft TANZ.LINZ inzwischen entwickelt hat, zeigt sie in der Geschlossenheit der Ensemble-Szenen ebenso wie in den Soli, Pas de deux und Kleingruppen-Sequenzen. Angelica Mattiazzi tanzt die Zerrissenheit zwischen den (nicht nur zerebralen) Hemisphären in einem starken Solo inmitten geteilter Gitter-Welten.

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Sidi Larbi Cherkaoui ORBO NOVO © Philip Brunnader

Sie tanzen die Sehnsucht der Menschen, die Barrieren durchdringt und Grenzen überwindet. Territoriale, nationale, intrapersonelle, zwischenmenschliche, religiöse, soziale und gesellschaftliche. Konventionen und Traditionen. Homophobie und Rassismus. Privatheit und Öffentlichkeit. Politisches Diktat und individuelle Ängste. Theater und Welt. Die Choreografie ist durchsetzt mit mannigfaltigen Andeutungen separierender Aspekte und polarer Beziehungen.

Die Gitter werden zu von den TänzerInnen selbst schnell verschiebbaren Elementen diverser trennender Konstellationen, ob Mauer oder Käfig, Hemisphären oder vielteilige Isolation, bei gleichzeitiger Durchlässigkeit für Energien, Gedanken, Arme und Körper. Was auch immer man isolieren kann, sie tun es. Das zentrale Element jedoch bleibt die gefühlte Vereinzelung des Individuums. Die per Schlaganfall davon Geheilte berichtet aber Novitäten.

Aus ihrem Erleben von der Einheit mit allem und dem Frieden in sich wuchs die Erkenntnis: Wir müssen nichts tun. Wir brauchen nichts Weiteres, kein Mehr. Wir müssen nicht kämpfen, nichts lernen. Es ist alles bereits in uns. Es gilt, loszulassen und zuzulassen. „Je mehr Zeit wir damit verbringen, den inneren Friedenskreislauf der rechten Hemisphäre zu aktivieren, um so mehr Frieden kommt in die Welt.“ Die Entstehungszeit des Stückes war gekennzeichnet von Barack Obamas US-Präsidentschaft. Jetzt, wie aktuell ist dieses Stück auch unter entgegengesetzten Vorzeichen!, erlebt die Welt in dieser Position einen spaltenden, zerstörenden Narzissten.

Die Metaphorik des Stückes ist äußerst komplex. Die individuelle Erfahrung von Frieden durch Überwindung von Trennung wird zu einem Bild für die Notwendigkeit des selben im Großen. Das Aufspüren, Akzeptieren und Niederreißen von inneren und äußeren, psychischen und physischen Barrieren und Grenzen formuliert Cherkaoui in diesem Stück als die Hauptaufgabe der Menschen und der Menschheit für die Schaffung einer friedlichen Welt. Beginnen aber tut es in jedem Einzelnen. Mit der Erkenntnis von der Einheit aller Dinge. Auch der des Selbst.

Die Vielschichtigkeit seiner Bildsprache, die einzigartige emotionale und spirituelle Dimension, seine allem zu Grunde liegende zutiefst humanistische Haltung und sein trotz aller Enttäuschungen widerständiger Wille, das Positive im Menschen herauszuarbeiten und herauszustellen, machen Sidi Larbi Cherkaoui zu einem herausragenden Choreografen und Regisseur.

Die Kompanie TANZ.LINZ hat mit „FALL / ORBO NOVO“ ihrem bislang schon beeindruckenden Repertoire einen weiteren, farbenprächtigen Mosaikstein hinzugefügt. Spätestens mit diesem äußerst anspruchsvollen Doppelabend, der es neben den enormen physischen, mentalen und emotionalen Herausforderungen den TänzerInnen ermöglicht, die große Bandbreite ihrer künstlerischen Fähigkeiten einzubringen, stellen sie sich an die Spitze der Österreichischen zeitgenössischen Tanz-Kompanien. Auch europäische Vergleiche muss sie nicht scheuen.

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Sidi Larbi Cherkaoui ORBO NOVO © Philip Brunnader

Jill Bolte Taylor sah sich dabei zu, wie ihre Glaubenssysteme zu Staub zerfielen und Neues aus diesem Staub entstand. Sie erlebte eine massive Verschiebung der Werte und sie erfuhr das Schönste, Größte und Wichtigste, was den Menschen zu einem göttlichen Wesen macht: Die Einheit von allem. Sie erlebte Frieden in sich. Und sie (mit ihr und durch sie Sidi Larbi Cherkaoui) rufen es hinaus in die Welt: Schafft (zuerst) Frieden in euch. Dann wird Frieden in der Welt.

„ORBO NOVO“ endet apokalyptisch. Der einsame Mann in einem Käfig, ein weiteres Mal brilliert Yu-Teng Huang mit seiner hoch emotionalen, wahrhaftigen Tanzkunst, steht für die einzige Hoffnung, für das tief vergrabene Wissen der Menschen um ihre Fähigkeit zu hoffen und zu leben. Zugleich für die Einsamkeit des großen Künstlers und Menschen Sidi Larbi Cherkaoui. Und für eine noch gefangene „Neue Welt“, die zu erschaffen „ORBO NOVO“ ein zutiefst bewegender Appell ist.

Sidi Larbi Cherkaoui und TANZ.LINZ mit „FALL / ORBO NOVO“ am 01.03.2025 am Landestheater Linz.

Rando Hannemann

 

 

 

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