Copyright: Linzer Landestheater/ Reinhard Winkler
Linz: „THE WAVE“ – Uraufführung am Schauspielhaus des Landestheaters, 05. 11. 2020, veröffentlich am 20. 03. 2021
In Zusammenarbeit mit der Musik und Kunst (MuK) Privatuniversität der Stadt Wien
Musical von Or Mathias nach dem Bericht von Ron Jones, Mitarbeit an der Original-Konzeption und Consulting Chloe Treat, Deutsch von Jana Mischke;
Dramaturgie Arne Beeker
1967 wollte ein unkonventioneller und jedenfalls in seinem Beruf sehr engagierter Lehrer an der Cubberly High School in Palo Alto, Kalifornien, seine Schüler über die Nazi-Zeit unterrichten. Doch er stieß auf Unglauben – wie könne solch ein System bei den Leuten verfangen, ja das ganze Leben vereinnahmen? Mit ein paar für sich jeweils unverfänglichen Ideen und Vorgangsweisen, die freilich auf Disziplinierung und Gleichschaltung sowie elitäres Selbstbewußtsein abzielten, gelang es Ron Jones nur zu rasch, rascher und gründlicher, als er sich in Alpträumen vorstellen konnte, seine Klasse zu einer protofaschistischen Gemeinschaft zu formen. Darüber hinaus schlossen sich, ohne sein Zutun, noch Schülerinnen und Schüler aus anderen Klassen an, grüßten sich mit dem von Jones angeordneten „third wave“ (an den Hitler-Gruß angelehnt) und begannen, sich aggressiv gegen Nichtteilnehmer an dieser „Bewegung“ zu verhalten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde Jones sein pädagogisch-psychologisches Experiment unheimlich und er beeilte sich, es abzubrechen. Aus dem Bericht darüber wurde 2019 an der Johnny Mercer Writers Colony bei Goodspeed Musicals ein Bühnenstück entwickelt. The Wave wurde zum Teil mit Unterstützung von SPACE on Ryder Farm (www.spaceonryderfarm.org) geschrieben.
Der Beginn gehört dem „einfachen Volk“, das sich a capella in Harmonien, die sehr an die Arrangements des damaligen (End-60er) Edel-Jazz-Vokalensembles „Singers Unlimited“ erinnern, über die verwirrende und reizüberflutende Welt beklagt – „Insel im Dunkeln“.
Nun stellt sich die Schulklasse vor – Stevie, der an Bildung weniger interessierte Sportler, eine pekuniär und familiär wenig Bemittelte (Jessie), eine Leseratte (Ella), ein Freund der Musik, weniger der Mathematik (James), und Robert, ein von allen engagiert benutztes Mobbing-Opfer, wenig erhellend tituliert als Hackfresse …
Lehrer Ron bringt „die Weltkriege der Großmächte“ zur Sprache. Die Klasse meint, die Anhänger Stalins und Hitlers seinen ohnehin alle „Psychos“, worauf Ron seine pädagogische Philosophie ausbreitet – „Das Buch des Lebens“. Am nächsten Tag beginnt er, ganz leise, Schülerinnen und Schüler einzuwickeln, mit Wiederholung, Übung, Disziplin, Haltung. Am dritten Tag schwört er aber schon alle auf einen undifferenzierten, bedingungslosen Zusammenhalt ein („Mit Herz und Hand“), auch schon mit gemeinsamer Aggression nach außen – zunächst nur mit Lärm, der in einer Nachbarklasse den Unterricht stören soll. Die Ent-Individualisierung der Schüler ist auf ihrem Weg. Auch trägt dazu bei, daß man sich in der Gruppe Ängste und Verletzungen offenlegt. Ron vertieft diese Entwicklung, indem er zu konsequent kollektiven Handlungen aufruft.
Nur eine aus der Klasse, die Bücherfreundin Ella, fühlt sich mehr und mehr unwohl bei diesen Entwicklungen, und wird aus dem Kollektiv ausgeschlossen; auch Robert, der zuvor einzig zu Ella eine gewisse Nähe aufgebaut hatte, schließt sich der Mehrheit an.
Mit einer vertieften Einschwörung in die Gemeinschaft werden wir in die Pause entlassen, in der Musical-Direktor Matthias Davids den Autor des Werkes, Or Mathias, interviewt.
Ella ist nun „Allein und frei“, der Chor der Mehrheit setzt Kontrapunkte. Die unter Anleitung von Ron entstandene Bewegung greift um sich, Mitglieder aus anderen Klassen werden angeworben, unter dem Slogan mittels Zusammenhaltes, Disziplin und daraus erwachsender Kraft etwas ganz Neues aufzubauen. Einwände von außen, von den Schwachen, werden abgeschmettert. Man hat einen eigenen Gruß. Es folgt eine Uniform, ein Spitzelsystem wird aufgebaut. Sogar eine Waffe kommt ins Spiel.
Ella wird von der Außenseiterin zur Feindin, gerät in reale Gefahr, findet aber doch einen Verbündeten („die Welle … wird nicht einmal ein Riß im Asphalt der Geschichte“). Ron muß erkennen, daß er unter seinen Schülern Geister geweckt hat, die nicht nur bedenklich erscheinen, sondern wirklich gefährlich werden. In einer finalen Versammlung wird er seinen Schülern den wahren Hintergrund der Vorgänge der letzten Tage auf drastische Weise offenbaren.
Mathias‘ Musik hält deutlich Abstand zum üblichen flachen Musical-Idiom, bezieht sich überwiegend auf den Jazz der 1950er. Im Finale gibt es auch merkliche Anklänge an Kurt Weill – nicht zuletzt, weil der Text auf Ellas Lieblingsautor Langston Hughes, der zusammen mit Weill u. a. die Oper „Street Scene“ verfaßt hat, Bezug nimmt. Unter der musikalischen Leitung von Juheon Han (keyboards) setzt eine siebenköpfige Gruppe das Material transparent und spannungsreich um.
Celina dos Santos. Copyright: Linzer Landestheater/ Reinhard Winkler
Die Inszenierung von Christoph Drewitz kann als zweckmäßig bezeichnet werden – die äußere wie innere Entwicklung ist klar dargelegt, aber die ausgeprägte Betonung des Textes auf ein norddeutsches Idiom schafft eine Distanz zum Inhalt, die die emotionelle Nähe zu den Personen, trotz aller vorhandener schauspielerischer Qualität, nicht gut tut. Die Handlung ist, wohl angesichts einiger Rhetorik des past President Trump, ins Heute verlegt – die geschilderten Vorgänge sind ja ohnedies nicht zeitgebunden… Die Choreografie (Hannah Moana Paul) hat es leichter, verständlich zu wirken. Der Bühnenaufbau, eine Art Glashaus mit verschieblichen Wänden, schafft den passenden Rahmen, von Veronika Tupy geschickt konzipiert. Auch die Kostüme (Anett Jäger) unterstreichen punktgenau Charaktere und Situationen.
Samuel Bertz, Hanna Kastner. Copyright: Linzer Landestheater/ Reinhard Winkler
Christian Fröhlich ist glaubwürdig der Lehrer Ron – ein lässiger Typ, der allerdings durch das Unverständnis seiner Schülerinnen und Schüler für historische Vorgänge auf Abwege gerät, die ihm schließlich selbst unheimlich werden. Die Ella von Hanna Kastner ist das brave, aber dann auch glaubhaft standhafte Mädchen, im Gegensatz zur korrumpierbaren Jess von Celina dos Santos. Lukas Sandmann als Robert demonstriert glaubhaft bis erschreckend die Wandlung vom underdog zum Fanatiker, sobald er durch das Regelsystem der „Welle“ die Macht bekommt, seinen angestauten Frust an anderen auslassen zu können.
Christian Fröhlich, Lukas Sandmann. Copyright: Linzer Landestheater/ Reinhard Winkler
Weniger exponierte, aber ebenso tadellos umgesetzte Rollen: als James Samuel Bertz, als Stevie Malcolm Henry; das gute Ensemble der nach und nach dazukommenden Anhänger: Alexander Findewirth, Carolina Juliana Hat, Paolo Möller, Lena Poppe, Alexander Rapp und Kathrin Schreier.
Abgefilmt wurde die Generalprobe, zwei Tage vor dem ursprünglich geplanten Premierentermin. Wobei Kameraführung und Schnitt schon auf Präsentationsfähigkeit abgestimmt worden waren, nicht auf betriebsinterne reine Dokumentation. Jonatan Salgado Romero und Constantin Georgescu an den Kameras kommen ohne viel Großaufnahmen aus, arbeiten vielmehr meist mit Totalen und Halbtotalen und ahmen so den Eindruck eines Zuschauers im Saal sehr gut nach: trotz heimatlicher Umgebung stellt sich ein Bühnenerlebnis ein! Wozu auch die Tonmeisterarbeit von Christian Börner und Gerald Landschützer beiträgt. Einige Ensemblemitglieder des Theaters im Zuschauerraum sorgen sogar für etwas Applaus…
Petra und Helmut Huber