Linz: „FANNY UND ALEXANDER“ – Premiere/Uraufführung am Schauspielhaus des Landestheaters, 16. 04.2022
Muriel Nova. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
Musical mit Text von Øystein Wiik, Musik von Gisle Kverndokk nach dem Film Fanny och Alexander von Ingmar Bergman; aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger und Roman Hinze
Ein Cartoon der deutschen Satirezeitschrift „pardon“ zeigte Mitte der 1970er ein Paar, das gegenüber einem Kinoportal steht. Aus dem Kino strömt das Publikum, mit hängender Nase, hängenden Haaren, hängenden Schultern, schlurfendem Schritt – nix wie personifizierte Depression. Die Beobachter gegenüber sind sich einig: „Muß gut sein, der neue Bergman!“.
Soweit die Satire. Jedenfalls galt Ingmar Bergman in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als der filmisch fokussierteste, handwerklich sorgfältigste, schmerzhafteste Analyst von Menschlichem und Allzumenschlichem, Abgründe und Verhängnisse bis zur völligen Hoffnungslosigkeit eingeschlossen. Obwohl seine Filme oft von Düsternis geprägt waren, konnte er beispielsweise mit seiner liebevollen „Zauberflöten“-Verfilmung 1975 und schon 20 Jahre davor mit „Sommarnattens leende (Das Lächeln einer Sommernacht)“ auch Heiteres und Spöttisches perfekt in Szene setzen. Letzterer Film wurde von niemand Geringerem als Steven Sondheim zu einem – höchst erfolgreichen – Musical verarbeitet, „A Little Night Music“; die Größten des showbusiness haben den Schlager des Stückes, „Send in the Clowns“, interpretiert.
Bergmans an Shakespeares „Hamlet“ angelehnter letzter Film von 1982, der autobiographisch gefärbt die Geschichte zweier Kinder in Uppsala zwischen einer wohlhabenden, liberalen bis leicht anarchischen und jedenfalls liebevollen Familie und einem (mörderisch?) düsteren, pietistisch-puritanischen Bischofshaushalt um 1910 herum umfaßt, transportiert von überragenden schauspielerischen Leistungen, noch einmal alle Facetten seines Werkes. Sogar Zauberei, Geistererscheinungen und eine optimistische Feier des prallen Lebens als Finale (samt epilogischem Ausblick auf die neue Theaterliteratur eines August Strindberg) gönnte er sich und uns für die dreistündige Kino- und eine fünfeinhalbstündige TV-Fassung.
Das in Skandinavien und weit darüber hinaus sehr prominente Autorenduo, das auch schon für Linz mit „In 80 Tagen um die Welt“ ein ziemlich geniales und entsprechend preisgekröntes Werk geliefert hat, konnte nach langer Überzeugungsarbeit von der Bergman’schen Nachlaßverwaltung die Rechte für eine Musicalfassung von „Fanny och Alexander“ erwerben. Eigentlich sollte diese Uraufführung schon vor zwei Jahren über die Bühne gehen, aber Corona… Die damaligen jugendlichen Hauptdarsteller kamen nicht mehr in Frage – Stimmbruch und „um einen halben Meter gewachsen“, wie Dramaturg und verum ego des Mitübersetzers, Arne Beeker, der „Broadway World“ im Interview sagte.
Das Stück hält sich sehr eng an die Kinoversion, teils erkennt man die Texte der deutschen Synchronfassung, vor wenigen Tagen nochmals angesehen, wortwörtlich wieder. Der Ablauf beachtet zum Teil auch die Filmschnitte, ermöglicht durch die munter rotierende Drehbühne. Musikalisch wird ein breitgefächertes Spektrum vorgeführt, von Anklängen an Unterhaltungsmusik der Handlungszeit (Sullivan-Operetten, aber auch Tango und Walzer) bis zu freier Tonalität. Auch die lyrischen Stellen sind großteils spannend komponiert, abseits von Klischees. Abgesehen vielleicht von einem wiederkehrenden „Saufthema“ („Schluck, schluck, schluck!“) bleiben Ohrwürmer zwar aus, aber das fast gänzlich durchkomponierte Werk mit relativ wenig gesprochenem Text ist dramaturgisch höchst geschickt, fesselnd geraten.
Die Inszenierung von Musicalchef Matthias Davids hält sich natürlich ebenso an das berühmte Vorbild, und ausnahmslos alle Ensemblemitglieder liefern intensive Charakterisierungen. Die Bühne von Hans Kudlich ist zweckdienlich für die rasche Szenenfolge, zitiert auch immer wieder Bilder aus dem Film (am augenfälligsten beim finalen Familienfest). Man kann allerdings bemängeln, daß die plüschige Heimeligkeit des Familiensitzes der Ekdahls zu unterkühlt wiedergegeben wird, ebenso fehlt die leicht unheimliche Magie des Hauses Jacobi; wohl aber mußten diese der Möglichkeit des schnellen Szenenwechsels zum Opfer fallen? Die Kostüme von Susanne Hubrich bleiben hingegen genau in der Handlungszeit, mit allem der Epoche entsprechenden Luxus, der dann freilich im kargen Haushalt des Bischofs nur noch stark gedämpft wahrnehmbar ist.
Videos (Jonatan Salgado Romero) spielen eine wichtige Rolle, denn insgesamt wird – mehr als im Film – die lebhafte Phantasie Alexanders, die für die Handlung so wichtig ist, immer wieder durch Projektionen aus seiner laterna magica, die er von der Großmutter zu Weihnachten bekommen hat, repräsentiert. Wobei diese Videos mit weiser Zurückhaltung eingesetzt werden, also nur dann, wenn sie wichtige Einblicke in die Gefühlswelt von Alexander geben, oder die Handlung ergänzen.
Tom Bitterlich leitet vom Klavier aus ein insgesamt 14-köpfiges Ensemble aus Streichern, (überwiegend Holz-)Bläsern und Harfe sowie zurückhaltender Perkussion. Es ergibt sich so ein elegant kammermusikalischer Klang, mitunter dezent swingend; insgesamt näher einem modernen Opernstudio als der Popmusik.
Franziska Stanner, Klaus Brantzen. Foto: Reinhard Winkler für Landestheater
Helena Ekdahl, die Matriarchin, bei der alle Handlungsstränge und Biographien immer wieder zusammenlaufen, ist mit ausdrucksstarker Stimme, Charme, menschlicher Wärme, Weisheit und Witz Franziska Stanner. Ihr ältester Sohn, Theaterdirektor Oscar Ekdahl, der früh in Stück stirbt und seinen Kindern nur mehr als Geist beistehen kann, ist Karsten Kenzel; auch er darstellerisch perfekt in dieser Rolle, obwohl sein timbre nicht recht dazu passen will. Seine Gattin bzw. Witwe Emilie wird von Sanne Mieloo warmherzig und reflektiert verkörpert, mit großer Stimme, und ihr facettenreicher Kampf mit dem Bischof um ihre Kinder ist alleine schon ein sehenswertes Drama.
Daniela Dett, Gernot Romic. Foto: Reinhard Winkler für Landestheater
Professor Carl Ekdahl ist ein loser und mitunter gewalttätiger Alkoholiker – wenig erfreulich als Mensch, aber als Rolle natürlich für Gernot Romic eine sehr lohnende Aufgabe. Seine Gattin Lydia hat mit ihm wenig zu lachen, was Daniela Dett ebenso überzeugend darstellt wie ihre auch erfreulicheren Lebensmomente.
Die wichtige Rolle des jüngsten Bruders namens Gustav Adolf, Restaurantbesitzer und umtriebiger Sexualiker, aber auch der, der neben seiner Mutter die stärkste Klammer der Familie darstellt, wird von Max Niemeyer mit exaktem Ausdruck und Präzision wahrgenommen, nicht ohne bisweilen angebrachtenÜberschwang. Seine Frau Alma, die die Nebenfrauen ihres „Gusti“ wenig kratzen, ist Nina Weiß; sie hatte sich ansagen lassen, ließ aber nichts von einer Beeinträchtigung merken. Seine aktuelle Liebste ist Maj, Kindermädchen bei Oscar und Emilie, von Hanna Kastner mit fröhlichem Selbstbewußsein und großer Fürsorge für die Titelfiguren ausgestattet.
David Arnspergers Bischof Edvard Vergérus ist eine stimmliche und darstellerische Urgewalt (ohne zu übertreiben – auch die leise, lauernde Bedrohung gehört zu seinem Spektrum!), und im Sinne der Handlung natürlich der ideale Bösewicht. Seinen dystopischen Haushalt vervollständigen perfekt Birgit Zamulo als Mutter Blenda, Tina Schöltzke als Schwester Henrietta sowie das verräterische Dienstmädchen Justina, Celina dos Santos – etwas weniger unheimlich und verschroben als Harriet Andersson im Original.
Die Rettung der Kinder vor dem düsteren Bischof wird von Isak Jacobi, Freund der Familie Ekdahl, jüdischem Geschäftsmann, mit nicht nur der diesseitigen Physik zuzuordnenden Methoden bewerkstelligt. Klaus Brantzen verleiht ihm Charakter, Menschlichkeit und Humor. Behilflich ist ihm sein Neffe Aron, Puppenkünstler, eine von mehreren sorgfältig verkörperten Rollen vom Lukas Sandmann in diesem Stück. Dessen Bruder Ismael lebt im selben Haus wegen einer psychischen Erkrankung unter Verschluß. Ihm kommt aber eine wesentliche Rolle dabei zu, nach den schrecklichen Erlebnissen im Bischofshaus Alexanders seelisches Gleichgewicht wieder herzustellen – und vielleicht ist er auch über übersinnliche Kanäle daran beteiligt, daß der Bischof sein „gerechtes“ grauenvolles Ende findet? Im Film war dieser fragile, androgyn gezeichnete Charakter der Schauspielerin Stina Ekblad überantwortet, was der Anlaß war, in der Vertonung einen Countertenor für die Rolle zu wählen: Alois Mühlbacher, ehemals Sopransolist der Florianer Sängerknaben, hat sich in diesem Fach etabliert und brilliert damit heute stimmlich ebenso wie als sorgfältiger, glaubwürdiger Bühnendarsteller.
Alois Mühlbacher. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
Außer Herrn Sandmann übernehmen weitere Vorgenannte mehrere Rollen; dazu sind noch Viktoria Gruber, Joel Parnis, Peter-Andreas Landerl (besonders: als schwerkranke Tante des Bischofs, auch im Film von einem Mann verkörpert) und Hannah Moana Paul zu nennen.
Die titelgebenden Kinder von Oscar und Emilie sind Muriel Nova als Fanny – konzentriert, präzise, ohne dabei unnatürlich oder gar unkindlich zu wirken – und Matthias Körber als Alexander; das ist eine riesige Rolle, sowohl von der Textmenge als auch vom Spektrum der darstellerisch geforderten, in dem Alter eigentlich unvorstellbaren Gefühle, und singen soll er dabei auch noch… wie auch immer: der zwölfjährige Matthias macht das dermaßen brillant, daß er unter all den erfahrenen Profis auf der Bühne völlig gleichberechtigt und gleich qualifiziert wirkt und damit natürlich ganz vorne weg zum Erfolg des Stückes beiträgt.
Dementsprechend begeisterter Applaus, nicht nur für das Bühnenpersonal und das Orchester, sondern auch für das Produktionsteam und die Autoren.
Petra und Helmut Huber