Linz: „PARSIFAL“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 12. 03.2022
Bühnenweihfestspiel in drei Akten von Richard Wagner
Michael Wagner (Gurnemanz), Ralf Lukas (Amfortas) und Katherine Lerner (Kundry).Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
„Sie werden sehen, Wagner stirbt“, soll, laut Wagners Impresario Angelo Neumann, ein Herr Förster in Bayreuth nach der Uraufführung am 26. Juli 1882 gesagt haben, und: „Ein Mensch, der das geschaffen hat, was wir heute erlebt haben, kann nicht länger leben. Der ist fertig.“ Die düstere Prophezeiung sollte sich wenig mehr als ein halbes Jahr später erfüllen.
Eine gebürtige Linzerin soll dabei eine Rolle als Streitobjekt zwischen Cosima und Richard am 13. Februar 1883 gespielt haben – zufolge freilich sehr schlecht abgesicherter Gerüchte, die erst Jahrzehnte nach Wagners Tod in die Welt kamen. Verbrieft hingegen ist, daß diese Caroline „Carrie“ Mary Isabelle Pringle eines der Blumenmädchen bei der Uraufführung war, und daß sie am 19. März 1859, abends um ½ 8, als Tochter eines in der Hauptstadt von „Österreich ob der Enns“ wohnenden Briten geboren wurde. Besagter Herr (Basil John Charles P.) wird im evangelischen Taufbuch als „Privatier“ angeführt; Mutter Isabella, née Latinovićš, stammte aus der ungarischen Hälfte des Habsburgerreiches. Bei der (Haus-)Taufe am 27. April durch den evangelischen Pfarrer stand wohl die Schwägerin oder Mutter von Basil Pate; sie scheint im Dokument als „Caroline Pringle, britische Captainsgattin, wohnhaft allhier“ auf.
Zu hören war Wagners letztes Werk, das (teils in des Meisters eigenen Zeugnissen) von tiefreligiös bis ganz böse und blasphemisch eingeschätzt wird, in unserer Stadt erstmals konzertant 1922, und dann als Gastspielaufführung 1927. Die erste szenische Eigenproduktion im Haus an der Promenade mit seinen sehr beschränkten räumlichen und orchestralen Möglichkeiten hatte am 25. 3. 1948 Premiere, die zweite am 2. 10. 1983. Die nunmehrige dritte, hätte eigentlich am Ostersamstag 2020 über die Bühne des großen Musiktheaters gehen sollen, aber Corona wollte es anders.
Der Linzer Schauspielchef Stephan Suschke stellte eine Inszenierung auf die Bühne, der man die dramatische „Pranke“ des ehemaligen BE-Chefs und langjährigen Mitarbeiters von Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin anmerkte: insbesondere die Interaktionen von Kundry mit Klingsor und dem Titelhelden sind intensivstes Theater, spannend und aufregend – und absolut entlang und, tiefschürfend, innerhalb des Wagner’schen Textes. Heißt natürlich auch: eine ausgefeilte Personenregie kann nur mit vorzüglichen Sing-Schauspielerinnen und-Schauspielern funktionieren, und die sind an diesem Abend fraglos bei der Arbeit. Aber auch der erste Akt gerät einfach überwältigend in seiner Stringenz und aufwühlenden Emotionalität. Im dritten könnte man vor dem Karfreitagszauber bemängeln, daß dem Regisseur zur Salbung von Parsifal und zur Taufe von Kundry nichts wirklich Sinnvolles eingefallen ist – aber der Rest auch dieses Aktes ist großes Theater und der Musik absolut dienlich! Dramaturgische Betreuung: Christoph Blitt.
Heiko Börner (Parsifal) und die Blumenmädchen. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
Bühne und Kostüme (Momme Röhrbein, Angelika Rieck) stellen die Handlung in eine unbestimmte Vergangenheit, nicht explizit ins Mittelalter, eher vielleicht um 1900: es finden sich auch Karabiner Typ (18)98 (die ja auch öfter als Stichwaffen, mit Bajonett, benutzt wurden…). Die in sowas wie einem Laufhaus domizilierten (man könnte auch sagen: in Käfighaltung mit Auslauf), wirklich sehr bunten Zaubermädchen sind hingegen etwa „discoglitzerig“ anzusehen, also der Jetztzeit zuzuordnen. Egal: der szenische Gesamteindruck paßt, auch in seiner Kontrastierung der „beiden Seiten des Gebirges“. Der „Heilige Speer“ ist ein getreues Abbild der Longinuslanze aus den Reichskleinodien, und auch der Gral wird entsprechend herausragend repräsentiert. Die Gralsburg ist eine kühle, abgewohnte Halle mit großer Fensterfront im Hintergrund – zum Finale mit Gebirgsblick; gewisse Ähnlichkeiten des letzteren mit dem Ausblick aus Hitlers Panoramafenster am Obersalzberg dürften aber zufällig sein.
Vor der Ouverture erscheint als überlebensgroße Projektion das Gesicht des Darstellers der Titelfigur, der das Gedicht „Traumwald“ von Heiner Müller rezitiert, das Anklänge an die Parsifal-Thematik aufweist. Sicherlich als Reverenz an den Mentor des Regisseurs, und gar keine schlechte Einstimmung. Als die Musik einsetzt, ist im Hintergrund ein mystischer, nebliger Wald zu sehen – auf der Bühne selbst wird man Natur aber vergeblich suchen.
Markus Poschner hat im Vorfeld der Produktion erklärt, daß „wir hier in Linz viel Erfahrung mit groß besetzten Stücken haben – Bruckner, Mahler, Wagner, Strauss“; stimmt einmal objektiv, aber er hat den Mund wirklich nicht zu voll genommen: die gewaltige Partitur wird von ihm und dem Bruckner Orchester mit größter Präzision, aber genauso mit transzendierender Leichtigkeit und feinsten Zwischentönen präsentiert – und ja, man verliert, wie es erklärte Absicht des Komponisten war, das Zeitgefühl. Die sämtlich sehr textdeutlichen Sängerinnen und Sänger sind auch genug bei Kraft, um dem Orchester alle Möglichkeiten der Dynamik zu eröffnen. Dazu kommen noch exzellente Leistungen des Theaterchores, genauso von Extra- und Kinderchor (Leitung: Elena Pierini, sowie Martin Zeller und Olga Bolgari). Besonders zu Ende des ersten Aktes, bei der Gralsenthüllung, werden die Chöre sehr effektreich eingesetzt – der Kinderchor z. B. ertönt vom zweiten Rang, mit durchaus „himmlischen“ Anklängen…
Katherine Lerner (Kundry), Adam Kim (Klingsor). Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
Die Besetzung der Solorollen erfolgte weitestgehend aus dem Ensemble. Als Amfortas war Martin Achrainer vorgesehen. Allerdings sang bei der Premiere (ohne Mitteilung über Gründe der Besetzungsänderung) der Gast Ralf Lukas, der eine reiche Vorgeschichte in dieser und anderen großen Baritonrollen in Bayreuth, München und weiteren ersten Häusern aufweist; er wurde seinem Ruf mit tragfähiger, schön timbrierter und modulationsfähiger Stimme sowie intensivem Schauspiel auch in Linz gerecht.
Ein – sehr regelmäßiger (FroSch-Kaiser, Tristan) – Gast sang auch die Titelrolle: Heiko Börner hat eine exzellente baritonale Stimmbasis, verliert aber auch in der Höhe nicht an Kraft und Stimmkultur und setzt die fordernde Rolle von Anfang bis Ende großartig um, egal ob an der Rampe oder tief im Bühnenhintergund – die Bezeichnung „Heldentenor“ paßt ihm absolut faltenfrei. Dabei spielt er auch noch entzückend den anfänglichen Naivling, weiß sich gegen Kundry zu behaupten und ist schließlich der vielleicht etwas düstere, aber verantwortungsbewußte neue Gralsherr.
Titurel ist William Mason, übrigens der Gurnemanz von 1983 – berührend und mit seinen 75 Lenzen weder stimmlich noch körperlich müde. Adam Kim gibt einen machthungrig-manipulativen und hartnäckigen Klingsor mit vorzüglicher, druckvoller Stimme.
Die Kundry von Katherine Lerner entspricht allen Erfordernissen dieser Rolle mit geradezu mächtiger, dabei fast immer samtiger Stimme und außerordentlich engagiertem Schauspiel; wie sie Parsifal in vielfältiger Weise umgarnt, ist nicht nur hörens- sondern auch sehenswert – und ihr Elend im dritten Akt kann sie ebenso berührend darstellen.
Ebenso auf der tollen Höhe dieser Produktion die Gralsritter Jin Hun Lee und Tomaz Kovacic, die Knappen Fenja Lukas, Vera Maria Bitter, Seogmann Keum und Grégoire Delamare. Die übersprudelnden, quirlig-unverschämten und ebenso bei prächtiger Stimme befindlichen Zaubermädchen sind Ilona Revolskaya, Hanyi Jang, Jana Markovic und Tina Josephine Jaeger; Fenja Lukas und Vera Maria Bitter kommen da ebenso zum Einsatz wie auch einige Chordamen.
Herzeleide ist hier nicht nur „die Stimme aus der Höhe“, sondern wird mitunter auch sichtbar; Vaida Raginskytė gibt ihr nicht nur ihre kultivierte, der Herausforderung mühelos gewachsene Stimme, sondern auch feine darstellerische Präsenz.
Michael Wagner (Gurnemanz), Heiko Börner (Parsifal. Dazwischen der Heilige Speer. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
Fehlt natürlich noch der eigentliche Hauptdarsteller, gerechnet nach Textumfang und gesanglichem Anspruch: Gurnemanz! Ihm verleiht Michael Wagner tolle Bühnenpräsenz, nicht nur mit der besten Diktion unter all den sehr gut Artikulierenden, mit noblem, facettenreichen Spiel, sondern auch mit der nötigen stimmlichen Ausdauer: Klingt er anfänglich noch etwas nach (freilich guter) Gesangstechnik, so hat er sich ab der Speer-Erzählung freigesungen und läßt sein Organ wunderbar strömen, voller Wärme, Emotion, selbstverständlicher Autorität, mit mühelosem Druck, schöner Tiefe, auch mit klangvollem piano… schlichtweg sensationell, bis zum Ende!
Begeisterter Applaus, der besonders nachdrücklich für Markus Poschner und das Orchester ausfällt, ebenso für Katherine Lerner und Heiko Börner; bei Michael Wagner werden dann vom Publikum noch ein paar dB zugelegt! Das Produktionsteam kassiert zwar ein paar Buh-Rufe, aber die Zustimmung setzt sich durch.
Petra und Helmut Huber