Premiere des Landestheaters Linz im Musiktheater am 27. Februar 2016 : Orfeo ed Euridice
Tanzoper von Mei Hong Lin, Musik von Christoph Willibald Gluck
Martha Hirschmann, Svenja Lukas und Ensemble. Copyright: Landestheater/ Barbara Aumüller
Der altgriechische, „heidnische“ Orpheus wurde in frühchristlichen Zeiten als Prophet gesehen. So wundert es nicht allzusehr, dass sich die ersten Opern im heutigen Sinne, an katholischen Höfen entstanden, die Geschichte von Orpheus und Eurydike zum Thema nahmen; zudem befinden wir uns da in der Renaissance, also der Zeit der Wiederentdeckung der Antike als für die „ewigen Fragen“ der Menschheit bestimmenden Epoche.
Auf Wikipedia ist sogar eine eigene Lexikonseite „Orpheus-Opern“ eingerichtet, und hier werden sage und schreibe 70 Werke (freilich nicht alles Opern im strengen Sinne) angeführt – von Jacopo Peri, 1600, also noch 7 Jahre vor Monteverdi, bis zum Werk eines Ricky Ian Gordon von 2005. In dieser Liste finden sich Namen wie Telemann, Rameau oder Wagenseil, Haydn, Offenbach, Milhaud, Henze – bis hin zur vielfach preisgekrönten Bossa Nova-Filmoper “Orfeu Negro“, 1959 von Marcel Camus nach einem Theaterstück von Vinicius de Moraes mit der Musik von Luis Bonfá und Antônio Carlos Jobim geschaffen.
Hat letzteres Werk gegenüber der alten Sage einen wo möglich noch dunkleren Schluß, so war in der Barockzeit bei Christoph Willibald Gluck ein happy end angesagt, denn der buchstäbliche „deus ex machina“, hier: Amor, rettet den Titelfiguren das Leben. So wurde das Werk auch zur Krönung von Joseph II. 1764 aufgeführt. 10 Jahre später hat Gluck – für Paris, klar – noch ein Ballett hinzugefügt. Der Komponist widmete sich mehr als seine Vorgänger der detaillierten Darstellung Orpheus‘ Schmerzen über Euridikes Verlust, gipfelnd in einem Fixpunkt des Repertoires vieler Tenöre wie Altistinnen: „Che farò senza Euridice“ – genial, wie in harmloser C-Dur tiefste Trauer ausdrückt wird; diese Arie ist dazu untrennbar mit dem tragischen Tod von Kathleen Ferrier verknüpft.
Copyright: Landestheater/ Barbara Aumüller
Bei der heute erstmals aufgeführten, mit 80 Minuten sehr kurz geratenen (daher auch sehr konzentrierten!) „Tanzopernfassung“ von Mei Hong Ling gibt es kein happy end – aber auch keine Mänaden, die Orpheus zerreißen, oder einen Steinwurf wie im brasilianischen Film, die ja eigentlich, auf die tödliche Weise, dann doch wieder die Liebenden zusammenführen würden: im Grunde das düsterst mögliche Ende (Dramaturgie: Ira Goldbecher und Thomas Barthol), aber vielleicht auch Resultat der Überlegung, was denn nach dieser überirdischen Arie überhaupt noch kommen könnte…
Auch abgesehen von der historisch so oft Umarbeitungen bedingenden „Pariser Opernmode“ ist dieses Stück mit seiner minimalen Solistenbesetzung eine Überlegung wert, wie man die Szenerie füllen und die Handlung voranbringen könnte. Dazu kommt eine Reminszenz an den Zeitgenossen Glucks als Wiener Hof-Ballettdirektor, Gasparo Angiolini; dieser stellte schon damals, parallel zu Neuerungen aus Frankreich, Überlegungen an, wie man den Tanz über die „reine Beinarbeit“ hinaus in den Dienst einer gesamthaften Darstellung stellen könnte. Insoferne steht das Konzept dieser Aufführung ganz in der Tradition der Möglichkeiten, die sich gerade zur Entstehungszeit des Werkes eröffneten.
Aber Barockoper (wenn Gluck auch bereits heftig am Übergang in die Klassik arbeitete) – das ist doch eine Sache nur für Spezialisten, sowohl auf der Bühne/im Graben wie im Saal? Nicht, wenn das Resultat so überzeugend, ja zwingend ausfällt wie an diesem Abend: Daniel Linton-France leitet ein epochegerecht klein besetztes Bruckner-Orchester (Bläser u. a. mit Barocktrompete!) mit Präzision, Eleganz und Delikatesse, die Musik bleibt trotz ihrer (scheinbaren) Einfachheit stets spannend, energiegeladen – und erweist sich unter seiner Stabführung als überraschend emotionell. Die Bühne (Dirk Hofacker) zeigte als dominantes Element einen goldenen Bilderrahmen, der sozusagen den Blick ins Jenseits eröffnete – wobei dieses Jenseits je nach Situation Anklänge an den Himmel in Munchs „Schrei“ oder beispielsweise impressionistische Landschaften aufwies. Dieses Jenseits wird anfänglich auf einer höheren Ebene (mit der Seele Euridikes verloren in der einsamen Weite) gezeigt; wenn aber Orfeo in den Hades hinabsteigt, wird die Bühne eingeebnet. Die Kostüme (Dirk Hofacker und Christian Schmidleithner) bleiben unaufdringlich im Heute, sind aber bei den beiden Titelfiguren stark abstrahiert und idealisiert; nur Amor durfte als entzückendes Barockengerl strahlen.
Aus Kapazitätsgründen war der Standardchor für diese Produktion nicht verfügbar; daher wurde diesmal der Extrachor (eine Vereinigung engagierter Amateurinnen und Amateure) unter der Leitung von Martin Zeller herangezogen und machte seine Sache hervorragend – musikalisch ohnedies über jeden Zweifel erhaben, aber auch in den schauspielerischen und manchmal ins Ballett hineinreichenden Aufgaben perfekt.
Die Tänzerinnen und Tänzer des Landestheaters traten diesmal ausschließlich als Ensemble auf. Ob als Seelen im Dies- oder Jenseits, ob als dessen grimme Wachen (die umgehend vom Gesang des Orpheus besänftigt werden), als (Mit)Trauernde – sie brachten Bewegung und überzeugende Atmosphäre auf die Bühne. Einige Male wurden die beiden Protagonistinnen auch durch Ballettmitglieder „zum Fliegen“ gebracht: auch wenn sie junge, sportlich-schlanke Damen sind, eine alles andere als triviale Interaktion zwischen sehr verschieden ausgebildeten Bühnenkünstlern
Gott Amor wurde von einem Mitglied des von Ursula Wincor geleiteten Kinder- und Jugendchores, Viola Geißelbrecht, mit natürlichem Charme, humorvoll und mit für das große Musiktheater mit Leichtigkeit ausreichender Stimme (und guter Artikulation) dargestellt.
Martha Hirschmann und Ensemble. Copyrigtht: Landestheater/ Barbara Aumüller
Die beiden Hauptrollen wurden ebenfalls von im Haus Herangezogenen gesungen: Fenja Lukas ist eine bezaubernde, hingebungsvolle und verzweifelte Euridice, mit blühendem, aber beweglichem und präzisen Sopran; von einer minimalen Rauhigkeit zu Beginn singt sie sich schnell frei. Der Orfeo von Martha Hirschmann ist großartig – nicht nur ihre Bühnenpräsenz über so gut wie die gesamte Dauer des Stückes ist darstellerisch facettenreich und intensiv (samt den schon erwähnten riskanten Kunststückerln), ihre Stimme hält über diese lange Distanz ebenso perfekt ihre samtige Qualität, samt Tiefe. Beide befleißigen sich auch (wie der Chor) einer sehr deutlichen Diktion.
Eine aufregende Produktion, mit genau balancierter Einfachheit, die doch so viele tiefe Einblicke eröffnet, und, als Kennzeichen eines rundum aufgegangenen Konzepts: immer wieder gibt es „Gänsehautmomente“.
Begeisterter Applaus für Ausführende und das leading team.
H & P Huber