
Lukas Sandmann (Dimitri), anna Kastner (Anja) und Karsten Kenzel (Gleb). Alle Fotos. Landestheater Linz / Reinhard Winkler
LINZ / Landestheater: Musical ANASTASIA
5. Oktober 2022
Von Manfred A. Schmid
Am 17. Juli 1918 wurde Zar Nikolaus und seine Familie in Jekaterinenburg von Bolschewisten erschossen. Wie bei bekannten Persönlichkeiten zu erwarten – man denke nur an Elvis Presley, der nach Meinung vieler Fans noch immer am Leben sein soll – kam es bald zu Spekulationen darüber, ob wirklich alle Kinder getötet worden wären. Bereits zwei Jahre später behauptete die damals 17-jährige Franzisca Czenstkowski, die in Berlin aus dem Landwehrkanal gefischt worden war, dass sie die überlebende Zarentochter Anastasia sei. Ihre mangelnden Russischkenntnisse und ihr spärliches Wissen über das Leben am Hof in St. Petersburg begründete sie mit ihren traumatischen Erlebnissen während der Mordnacht. Ihre Forderung nach einem Anteil am Millionenvermögen der Romanows wurde von einem deutschen Gericht aber abgewiesen. Anna Anderson, wie sie sich später nannte, wanderte in die USA aus und geisterte noch viele Jahre lang durch die Klatschspalten der Regenbogenpresse. Die letzte Person, die dem Anspruch erhob, Anastasia zu sein, war 2002 eine 101-jährige Georgierin, die jedoch starb, bevor ihre wahre Identität nachgewiesen werden konnte. Inzwischen haben eindeutige DNA-Analysen ergeben, dass damals die gesamte Zarenfamilie ausgerottet worden war. Der Mythos von Anastasia, der mysteriösen Zarentochter, ist aber längst unsterblich geworden.
Nicht nur die Presse, auch die Filmindustrie wurde auf das Schicksal der geheimnisumwitterten Zarentochter aufmerksam. 1956 erschien die erste Hollywood-Verfilmung mit Ingrid Bergman in der Titelrolle, 1997 folgte ein erfolgreicher Zeichentrickfilm, der für Oscars für die Beste Filmmusik und Bester Song nominiert wurde und als Grundlage für ein Musical diente, das 2017 am Broadway uraufgeführt, nun in Linz Anfang September seine österreichische Erstaufführung erlebt hat.
Der Reiz des musikalisch von Stephen Flaherty und Lynn Ahrens eher konventionell ausgestatteten Musicals besteht darin, dass es das Publikum vom in der Oktoberrevolution gebrochenen Glanz des Russischen Zarenreiches bis in das mondäne, ausgelassene Paris der 20er Jahre entführt, wo sich eine junge Frau daran macht, das Rätsel ihrer Vergangenheit und Identität zu ergründen und ihren Platz im Leben und ihr privates Glück zu finden. Der bewährte Dramatiker Terrence McNally, der in Zusammenarbeit mit Flaherty und Ahrends bereits das erfolgreiche Musical Ragtime verfasst hat, das ebenfalls in Linz (2019) erstaufgeführt wurde, erzählt eine packende Geschichte, die er – anders als in beiden Filmen – allerdings schon in Russland beginnen lässt. Zwei windige Kerle – Dimitri (der alle Sympathien auf sich ziehende Lukas Sandmann) und Wlad (Karsten Kenzel als drolliger, für viele Lacher sorgender Exadeliger) machen sich in St. Petersburg, nach der Machtübernahme durch die Kommunisten in Leningrad umbenannt, auf die Suche nach einem geeigneten Mädchen, das sie der in Paris lebenden Zarenmutter als deren Enkelin präsentieren wollen, um die von ihr ausgesetzte hohe Belohnung einheimsen zu können. Als ihnen die Straßenkehrerin Anja über den Weg läuft, werden sie hellhörig. Da Anja an Amnesie leidet, sollte es ihnen leichtfallen, ihr eine passende Vergangenheit und Herkunft einzureden und sie entsprechend zu instruieren.
Bis sie mit Anja endlich Russland verlassen können vergeht aber viel Zeit. Es gibt allerlei Hindernisse zu überwinden. Vor allem steht der Politkommissar Gleb Vaganov ihren betrügerischen Absichten im Weg, der sich zudem, ohne es sich selbst zuzugeben, in Anja verliebt hat und sie schließlich bis nach Paris verfolgen wird. Nikolaj Alexander Brucker ist ein souveräner Gestalter dieser zwischen Parteitreue und persönlichen Gefühlen zerrissenen Figur und singt vortrefflich. Der 1. Akt gibt genügend Gelegenheit für Rückblicke auf das Leben in der Zarenfamilie, für rauschende Walzer, eine Schwanensee-Episode und folkloristische, artistisch atemberaubende russische Tanzeinlagen (Choreographie Kim Duddy), zieht sich allerdings etwas zu sehr in die Länge.

Dasniela Dett (Zarenmutter) und Hanna Kastner (Anja).
Zügiger geht es dann nach der Pause weiter, woran vor allem auch die umwerfend agierende Judith Jandl als herumwirbelnde Kammerzofe der Zarenmutter gebührenden Anteil hat. Eine Zofe als lebenslustige femme fatale ist jedenfalls eine Seltenheit und wird vom Publikum freudig angenommen. Der Tango mit ihrer alten Liebe erweist sich als ein raffiniertes komödiantisches Gustostückerl. Dass die Bühne von Andrew D. Edwards, eine raumfüllende Gerüstkonstruktion mit ausladender Treppe, sowohl für St. Petersburg/Leningrad und Paris verwendet werden kann, für Zarenpalast ebenso wie Nachtklub und Straßenszenen, nur unter Zuhilfenahme von Vorhängen, Fahnen und sparsamen verwendeten Accessoires, ist beeindruckend. Gelungen auch die Kostüme von Ales Valasek.
Berührend agiert Daniela Dett als würdevolle, im Pariser Exil lebende Großmutter Anastasias, die zuvor schon in der ersten Szene des Musicals im Zarenpalast, als sie von ihrer Lieblingsenkelin Anastasia wehmütig Abschied nimmt, einen starken Eindruck hinterlassen hat. Als Anja auftaucht, hat sie – angesichts so vieler vorstellig gewordener Betrügerinnen – längst resigniert. Wie es dennoch zu einer zögerlichen und schließlich sogar innigen Annäherung kommt, wobei bis zum Schluss offenbleibt, ob Anja wirklich Anastasia ist, wird von Matthias Davids fein und glaubwürdig in Szene gesetzt. Seine glänzende Personenführung lässt nichts zu wünschen übrig. Nur der erste Akt, der zuweilen wie auf der Stelle zu treten scheint, führt zu Momenten der Langeweile, was von der Kritik freilich auch schon der Uraufführung am Broadway nachgesagt wurde und wohl ein Schwachpunkt der Originalvorlage ist.
Und Anja/Anastasia? – Hanna Kastner, ohne Unterlass auf der Bühne und immer – zweieinhalb Stunden lang – im Einsatz, überzeugt mit starken Ausstrahlung und feinen Sopranstimme, als verzweifelte junge Frau ebenso wie als Dame in eleganter Robe. Für das Geheimnisvolle, Mysteriöse, das in dieser Figur auch steckt, ist sie vielleicht nicht die idealste Besetzung, was sie mit ihrer authentischen Natürlichkeit und Herzlichkeit allerdings weitgehend wettmacht.
Juheon Han am Pult des Newa-Cluborchesters lässt an Schwung und folkloristischer Melodienseligkeit nichts zu wünschen übrig. Das Musical ist, wie ihm nachgesagt wird, nicht frei von Kitsch und musikalisch, wenn man seine Entstehungszeit vor wenigen Jahren hernimmt, wohl etwas altmodisch gestrickt. Aber es kommt gut an, wird seit der Uraufführung in vielen Ländern mit Erfolg nachgespielt und derzeit auch in Linz, Wochen nach der Premiere, weiterhin vom Publikum gestürmt und mit Standing Ovations bedacht.