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LINZ/ Landestheater: Linz: „NATASCHA, PIERRE UND DER GROSSE KOMET VON 1812“ – Elektropop-Oper (Musical) von Dave Malloy. Premiere (europäische Erstaufführung)

12.02.2023 | Operette/Musical

Linz: „NATASCHA, PIERRE UND DER GROSSE KOMET VON 1812“ – Premiere (europäische Erstaufführung) am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 11. 02.2023

Elektropop-Oper (Musical) in zwei Akten von Dave Malloy, nach einem Ausschnitt des Romans „Война и миръ“ (Krieg und Frieden) von Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi

In deutscher Sprache (Übersetzung: Roman Hinze) mit deutschen und englischen Übertiteln

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Bettina Schurek, Gernot Romic. Foto: Reinhard Winkler

Dave Malloy ist der nicht nur in der Musicalwelt seltene Fall eines Alleinautors. Er hat in seinen Werken nie das Übliche gewählt, bis hin zu einer von Clowns erzählten Bibel… Im Zuge der Produktion seines Musicals „Preludes“ in Linz im Jänner 2017, ebenfalls als europäische Erstaufführung, konnte das hiesige team eine enge Beziehung zu ihm aufbauen, die dazu führte, daß nun auch dieses wesentlich größere Werk in Linz Europapremiere feiern kann.

Wobei dieses Werk, diese Produktion viele sehr ungewöhnliche Facetten aufweist: erstens wurde die recht komplexe Geschichte für eine immersive Szenerie – Stichwort die „Alma“-Produktion(en) von Paulus  Manker – entwickelt, auf welche Idee Malloy beim Besuch einer Bar in Russland gekommen war. Die Uraufführung fand am 16. Oktober 2012 off-Broadway statt, wobei nur Platz für ein Publikum von 85 Personen war, das, entsprechend der gedachten  Spielstätte, auch (all inclusive) zu trinken bekam. Das führte bei größeren Folgeproduktionen sogar zu alkoholischen „Disziplinarproblemen“… 2016 kam das Stück am Broadway an, im Imperial Theater, das zur Wahrung der Immersionsidee 200 Sitze einbüßte, dafür besonders teure Ticketpreise einhob; aber trotz guten Erfolges (32 previews und 336 Aufführungen) konnten die Produktionskosten bei weitem nicht hereingebracht werden.

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„roving musicians“. Foto: Reinhard Winkler

Zweitens erfordert das Stück sehr spezielle Leistungen seitens der Besetzung: in etlichen Rollen müssen die Damen und Herren nicht nur singen, schauspielen und tanzen können, wie man es nach einer Musicalausbildung erwartet, sondern (mitunter gleichzeitig mit Tanz!) auch ein Musikinstrument beherrschen („roving musicians“). Was natürlich ein sehr spezielles und aufwendiges casting bedingte – aber hier in Linz auch, daß der Darsteller des Pierre Klavier und Akkordeon spielen lernen mußte, von Null an!

Drittens ist das Stück durchkomponiert – also gibt es (fast) keine sonst in Musicals übliche Sprechstellen. Und viertens wird von Tolstois Text wird auch viel von deskriptiven, regieanweisungsartigen Stellen übernommen, indem Sängerinnen und Sänger außerhalb des Szenenfokus das Geschehen verbal verstärken.

Was ist nun die Handlung? Aus den 361 Kapiteln auf rund 2.000 Seiten des riesigen Epos, das in seiner umfänglichsten Verfilmung (Sergej Bondartschuk, 1967) mehr als sieben Stunden dauert, hat Dave Malloy eine Episode zwischen Natascha, ihrem Verlobten Andrej, dem Verführer Anatol und ihrem Beschützer Pierre herangezogen, wobei er auf den englischen „Originaltext“ der ersten Übersetzung durch Aylmer and Louise Maude 1923 zurückgriff.

Die Beziehungen zwischen den genannten Figuren sind schon einmal recht komplex, dazu kommen noch einige weitere Verwandte und Involvierte. Der Autor hat deshalb eine Vorstellung der Verhältnisse als Prolog eingesetzt; und damit man sich das auch merkt und den Rest des Abends durch die Handlung findet, wird alles thesaurisch immer erneut wiederholt, in der Art von “Old McDonald had a farm“…

Malloys Musik ist ein faszinierender Mix von electronic dance music bis goldene Broadway-Zeit, auch romantischer Liedkomposition und – teils lateinamerikanischer – Tanzrhythmen. Die lyrischen Abschnitte sind nicht flache Musical-Dutzendware, sondern richtig tiefschürfend und bewegend, einfallsreich-melodiös, andererseits geht’s – dramaturgisch bestens eingepaßt – oft ziemlich hart zu, zwischen House und Rap, und auch Soul kommt nicht zu kurz. Call and Response wie in der orthodoxen Messe, Themen werden oft durch verschiedene musikalische Stile gezogen. Mitunter überlagern sich Zweier- und Dreierrhythmen wie im Schubert’schen „Erlkönig“. Natürlich dürfen auch „russische Stereotype“ nicht fehlen, die jedoch keinesfalls überstrapaziert werden. Mittendrin eine ebenso geschickte „neutönerische“ Opernparodie voller doppelbödigem Humor und Virtuosität: Es bleibt durch die ganze Aufführungsdauer von gut 2½ Stunden (incl. Pause) musikalisch spannend!

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Das Leitungsteam Matthias Davids, Tom Bitterlich, Andrew D. Edwards, Michael Grundner, Arne Beeker. Foto: Petra und Helmut Huber

Für die Umsetzung verantwortlich sind Dirigent/Pianist Tom Bitterlich und seine Flying Comets – 9 Damen und Herren auf einer angehobenen Plattform im hinteren Bühnenraum (dazu einem Computerfachmann) und natürlich die „Rovers“, also die Instrumentalsängertänzer und -tänzerinnen (Violine: Alexandra Frenkel und Verena Nothegger, Viola: Luciana Zadak, Gitarren: Alexander Bambach und Maurice-Daniel Ernst, mitunter klezmergetönte Klarinette: Daniel Decker,  Akkordeon: Atanas Dinovski, Yevgenij Kobyakov). Trotz der schwierigen Verständigungssituation insbesondere mit den „Umherschweifenden“ läuft es in Rhythmik und Koordination fast durchwegs makellos – ein einziger kleiner Wackler passiert im ersten Akt, der aber sofort vom Dirigenten eingefangen wird. Völlig außer Zweifel die generelle musikalische Gestaltung mit großartigen Stimmungsfarben, Drive und lyrischen Spannungsbögen. Bewundernswert die Rovers, die oft während ihres Spiels auf der stufenreichen Bühne oder im Zuschauerraum scheinbar mühelos und fröhlich herumeilen, ohne einen einzigen Ton zu versäumen oder einen Fehltritt zu tun.

Andrew D. Edwards ist für Bühne und Kostüme verantwortlich. Er schuf einen vielfach strukturierten und abgestuften Raum aus teils farbig akzentuierten Eisenprofilen, der an die Konstruktivisten und den Theaterstil Wsewolod Meyerholds angelehnt ist. Zwar wird nicht, wie ursprünglich in der Aufführungsgeschichte, für das Publikum eine „Barsituation“ hergestellt, jedoch verschwimmen die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum schon einmal konstruktiv, noch dazu akzentuiert durch einen Laufsteg, der bis in die dritte Parkettreihe reicht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch vielfältige Auftritte über Publikumsgänge oder Fortführung des Bühnengeschehens in den Logenbereich. Die Kostüme wirken auf den ersten Blick sehr epochegerecht zur Empirezeit, weisen aber auch einige frech-hintersinnige Spezifitäten auf, besonders augenfällig bei der Figur der alles andere als treuen Hélène. Und den im ersten Akt eingebauten Opernbesuch nutzt Edwards zu blühendem, köstlich satirisch unterlegtem Unsinn. Michael Grundners Lichtdesign setzt die Akzente, auch mit buchstäblichem Aufflackern von oder bei emotionalen Höhepunkten.

Regisseur Matthias Davids hat, zusammen mit der Broadway-erfahrenen Choreografin Kim Duddy, in diesen grenzenlosen Raum klar gezeichnete Charaktere mit intensivem und plausiblem, nötigenfalls hochemotionellen Ausdruck gesetzt, dabei körperlich überaus beweglich – und, bei den komplizierten Stufen nicht selbstverständlich, perfekt trittsicher. Noch dazu gibt es mehrere Episoden mit blankem Chaos auf der Bühne – in Wirklichkeit natürlich sorgfältig auf den Sekundenbruchteil und den cm inszeniert und umgesetzt! Die wildeste derartige Szene ist die mißglückte Flucht von Natascha mit Anatol.

Dramaturg Arne Beeker, dem Vernehmen nach auch für die – tadellos in die Musik verwobene, in sich logische – Übersetzung verantwortlich, hat ein sehr informatives Programmheft zusammengestellt bzw. verfaßt, das nicht nur das Beziehungsgeflecht der Personen der Handlung zeigt, sondern auch eine Inhaltsangabe des gesamten Tolstoi’schen Romans enthält, in der die für das Musical relevanten Stellen hervorgehoben sind.

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Christian Fröhlich, Hanna Kastner. Foto: Reinhard Winkler

Die „ingénue“ Natascha wird durch den hohen Sopran Hanna Kastner sprachdeutlich, klar und intensiv emotionell-ehrlich dargestellt. Christian Fröhlich liefert als philosophischer Pierre wie gewohnt eine erstklassige Leistung in dieser „Baritenorrolle“, nicht nur als sehr sprachdeutlicher Sänger und Schauspieler, sondern auch am Klavier (mit gleichzeitigem Gesang!) und Akkordeonist. Der Charmeur und Verführer Anatol wird von Gernot Romic brilliant glaubwürdig dargestellt, ein Hedonist ohne Bedenken.

Judith Jandl als Nataschas Cousine Sonja beweist, daß es auch „weißen Soul“ gibt. Die strenge grande dame/grand-mère Marja D., die Natascha im letzten Moment davor bewahrt, von Anatol ent- und verführt zu werden, gibt Sanne Mieloo erneut Gelegenheit für eine eindrückliche Rollengestaltung mit großer Stimme. Die zügellose (im Rollenspiegel des Musicals glatt als Hure bezeichnete) Hélène, Gattin von Pierre und Schwester Anatols, wird von Daniela Dett ebenso maliziös wie saft- und kraftvoll portraitiert. Zu dieser Rolle gibt es unseren einzigen Kritikpunkt an der deutschen Fassung, denn Beeker/Hinze übersetzt in der Personenbeschreibung des Prologs das originale „slut“ mit „bitch“ (also eigentlich nicht…) – nur, ehrlicherweise: was besseres ist uns bis jetzt auch nicht eingefallen…

Anatols Freund (und einer der Nebenbuhler Pierres) Dolochow wird von Lukas Sandmann als Romantiker gegeben, der sich bis zum beinahe tödlichen Duell vorwagt.

Celina dos Santos ist  eine feindselige, selbst vom Vater gequälte Mascha, ferner Magd und, in köstlicher Maske, absurde Opernsängerin. Joel Parnis gibt den kriegsbedingt meist fernen Verlobten Nataschas (und Maschas Bruder), Andrej Bolkonski, als ziemlich verbitterten, versteinerten Charakter; umso mehr zieht er als Vater Bolkonski alle tragikomischen Register eines ebenso giftigen wie ob seines körperlichen und geistigen Verfalles verzweifelten Greises und als schriller Partner von Frau dos Santos an der Oper.

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Karsten Kenzel. Foto: Reinhard Winkler

Bei Troika-Kutscher„tier“ Balaga (Karsten Kenzel) möchte man nicht unbedingt Pferd sein, mit umso größeren Vergnügen Zuschauer. Ein quicklebendiger Diener: Bettina Schurek.

Von Tanz Linz kommen oft in stereotypen Bewegungsmustern gefangene Dienerfiguren und der wuselige Chorus in der Oper: Elena Sofia Bisci, Katharina Illnar, Angelica Mattiazzi, Lorenzo Ruta, Arthur Samuel Sicilia, Nicole Stroh und Pedro Tayette.

Für Szenenapplaus läßt die musikalischen Form wenig Raum – Grund würden die Leistungen durchaus bieten. Jedenfalls am Schluß 10 Minuten Begeisterung und standing ovation, auch für das Produktionsteam: der russische Bär stept, und es lohnt sich, ihm dabei zuzusehen!

Petra und Helmut Huber

 

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