Linz: „BENJAMIN BUTTON“ – Uraufführung im Musiktheater des Landestheaters Linz, Großer Saal, 06. 04.2024
Oper mit Text und Musik von Reinhard Febel nach der Erzählung „The Curious Case of Benjamin Button/Der seltsame Fall des Benjamin Button“ von F. Scott Fitzgerald
Auftragswerk des Landestheaters Linz, unterstützt von der Ernst von Siemens Musikstiftung
Buch-Cover
Fitzgerald, untrennbar mit der turbulenten, lebenslustigen Ära vor der Weltwirtschaftskrise verbunden, der Zeit von Jazz, Radio und der ersten Jugendkultur, wurde im Alter von 25 Jahren 1921 mit seinem Roman „This Side of Paradise“ schlagartig berühmt. „Amerikas Sänger vom Elend des Wohllebens“ (SPIEGEL) schrieb viel und gilt als einer der großen Modernisierer der US Literatur, durchaus im Range eines Ernest Hemingway. 1922 erschien ein Band mit dem Titel „Tales of the Jazz Age“, der auch eine Erzählung über einen gebürtigen Greis, der im Laufe der Jahrzehnte zum Kind … herabwächst, enthielt.
Wie viele seiner Werke konnte auch dieses Buch nicht an den Erstlingserfolg anschließen – und dieses Oeuvre umfaßt doch viele heute legendäre Titel wie „The Great Gatsby“, „Tender Is the Night“, oder, wegen seines Todes 1940 nicht fertiggestellt, „The Last Tycoon“. Heute sind das alle bekannte Filmtitel, der Wiederentdeckung des Autors in den 1960ern ff. geschuldet. Auch der „seltsame Fall“ wurde auf diesem Wege populär, 2008 von David Fincher aufwendig verfilmt, mit u. a. Brad Pitt und Kate Blanchett.
Eine Oper nach dieser Story gibt es freilich schon: die von Estela und John Eaton verfaßte hatte ihre Uraufführung am 15. Juni 2010 im Peter Norton Symphony Space in New York, einer ehemaligen Markthalle Ecke 95th/Broadway. Nun hatte das Landestheater Linz beim musikdramatisch erfahrenen Professor für Komposition am Mozarteum, Reinhard Febel, eine eigene Sicht der Geschichte in Auftrag gegeben; die Uraufführung erfolgte freilich auch verzögert durch Corona.
Der Komponist und Librettist dieser durchkomponierten Oper hat die Akzente etwas anders gesetzt als Fitzgerald oder Fincher: natürlich kreist zunächst alles um die Konflikte und das Skandalon des „verkehrten Lebens“ (einmal kommt auch das „Skandalon des Todes“ gemäß Elias Canetti zur Sprache), aber er nimmt die Liebesgeschichte zwischen Benjamin und seiner Alters/Jugendfreundin bzw. Ehegattin viel wichtiger. Das schafft natürlich Atem für emotionale Momente, die brillant musikalisch (und sängerisch…) dargestellt werden – in Summe durchaus in Befolgung der Maxime von Vincenzo Bellini „Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.“ Definitiv ein bewegender Abend – und daran trägt die Musik einen sehr guten Teil des Verdienstes mit undogmatischer Kompositionsweise, die sich nicht vor der Spätromantik fürchtet, oft humorvollen Anspielungen von Wagners Walküren bis zum Jazz, aber auch Zwölftönern der 1920er: ein Ohrenschmaus – zumindest für nicht (allzu?) konservative Gemüter.
Die Lebenszeit der Titelfigur ist zur Erzielung einer strukturierten Erzählung in Epochen bzw. Episoden eingeteilt, und wann immer so eine „Zeitenwende“ ansteht, ertönt eine Ratsche, die auf Basis einer Weinkiste extra für diesen Einsatz gebaut wurde; gleichzeitig rufen zwei Zeitungs“jungen“ die historisch zugehörigen Schlagzeilen aus – vom kalifornischen Goldrausch bis zum Beginn des Koreakrieges (sicherheitshalber wird auf den oberen Bühnenrand noch die Jahreszahl projiziert). Zudem ist anzumerken, daß der Textdichter und Handlungsgestalter Febel dem Komponisten an Formulierungsgeschick und Humor um nichts nachsteht – z. B. läßt er den neugeborenen Greis, der, quellengetreu nach „einem Gehstock, einer Zigarre und der Zeitung, für die Rennberichte von Pferden und Hunden“ verlangt, die Hand seiner Mutter küssen. Die Umstehenden bewundern die Höflichkeit des Neugeborenen, und „daß er nicht so laut ist wie die üblichen Babies“.
Martin Achrainer, Sophie Bareis, Matthäus Schmidlechner. Foto: Reinhard Winkler für Landestheater
Viel von der stringenten und emotionell aufwühlenden Wirkung der Aufführung kommt auch von der Arbeit von Bühnenbildner Dieter Richter (schon wieder, nach der „Jüdin“ – und das ist ganz & gar nicht schlecht!), der sich bei seiner technisch sehr schlau gestalteten Bühnenkonstruktion an den Bildern von Edward Hopper orientiert hat: diese zeichnen sich einerseits durch exquisite, (scheinbar) heimelige „Amerikanität“ aus, transportieren aber immer auch geradezu nagende Elemente von Depressivität und Verunsicherung – genau das Umfeld, das zum widernatürlichen Lebensverlauf der Hauptfigur mit den daraus resultierenden Konsequenzen für ihre Umgebung paßt. Der Bühnenaufbau ist trotz teils großer Tiefe sehr sängerfreundlich gestaltet, und durch Heben und Senken der Deckenstruktur lassen sich in dieser pausenlosen Aufführung Räume rasch fundamental verändern. Ein paar optische gags bringt er auch unter: so ist ein recht klar in art-déco-Manier gestalteter Luster als Schraube mit Mutter geformt – Schrauben und Nägel sind ja das Familiengeschäft der Buttons und halten, oft wiederholt, „ die Welt zusammen“ (die große wie die Welt der Fabrikantenfamilie).
Die Kostüme von Meentje Nielsen sind einerseits sehr konventionell, was natürlich eine klare, historisch definierte Erzählungsstruktur stützt; andererseits leisten sie sich aber auch wohlkalkulierte Abweichungen vom historiengetreuen Grundmuster, um einige, durchaus auch einmal sarkastische oder zynische Kommentare zur Zeit unterzubringen.
Die Inszenierung von Intendant Hermann Schneider ist flüssig und logisch und nutzt die großen schauspielerischen Talente des Ensembles in einer genauen und emotionell plastischen Personenführung. Wobei nicht nur die Sängerinnen und Sänger der Hauptrollen überzeugen, sondern auch Chorsolisten in brillanten Kurzauftritten. Dramaturgische Betreuung der Produktion: Anna Maria Jurisch.
Martin Achrainer und die Kuscheltiere. Foto: Reinhard Winkler für Landestheater
Die Handlung sei hier, weil vom Komponisten anders gewichtet und gegenüber der Quelle mit zusätzlichen Figuren umspielt, noch kurz skizziert: BB wird 1860 als Greis geboren, zum Entsetzen und Verwirrung von Personal, Eltern und Arzt. Eigentlich auf der Welt willkommen geheißen wird er von seinen Kuscheltieren, die eine große Seidendecke mitbringen, die immer wieder auftauchen wird. Hier springt die Handlung kurz nach 1950, als sich seine Witwe Hildegarde kurz vor ihrem Tod an das erste Kennenlernen erinnert: der alte, aber doch auch „kindische“, unter Beobachtung durch Dr. Keene stehende BB lernt sie als Nachbarskind kennen, erste Sympathie blitzt auf. Später ist Hildegarde Sängerin geworden, und sie und der nunmehr „in den besten Jahren“ befindliche BB heiraten. Bald drauf übernimmt er vom Vater die Firmenleitung, die Eltern sterben um den 1. Weltkrieg herum. In den 20ern ist dann Party time angesagt, aber so ein Fest artet auch aus, als die Gäste, enthemmt vom illegalen Alkohol, offen das Fabrikantenehepaar verspotten – schließlich ist inzwischen BB ein jüngerer Erwachsener und Hilde eine schon recht reife Frau. Die Polizei beendet das ausgeartete Fest. Immer wieder sehen wir die sich erinnernde alte Hildegarde, dann auch, als BB zum Halbwüchsigen geworden ist und Hilde mehr und mehr zur Tante oder Oma für ihn wird. Nochmals kümmern sich Kindermädchen und die Kuscheltiere um ihn, bevor er unter der Seidendecke entschwindet. Ein letztes Mal erinnert sich Hilde an Benjamin, sehnt sich nach ihm. Der Koreakrieg beginnt.
Carina Tyberg-Madsen, Martin Achrainer. Foto: Reinhard Winkler für Landestheater
Als Benjamin Button bietet Martin Achrainer eine überwältigende Leistung, mit seinem klangvollen, meisterlich angesetzten, extrem modulationsfähigen Bariton und seinem großen schauspielerischen Können. Gegen Ende des Stückes kommt als sein Kind-Ego zunächst der uns schon aus zahlreichen Produktionen seit „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ bekannte Gabriel Federspieler auf die Bühne. Er hat auch ziemlich viel zu singen, was er großartig macht. Noch später im entweichenden Leben der Hauptfigur ist Sebastian Strasser ihr Darsteller, der naturgemäß kaum mehr singt.
Gabriel Federspieler, Carina Tyberg-Madsen. Foto: Reinhard Winkler für Landestheater
Hildegarde Moncrief, (später Granny Hildegarde): Carina Tybjerg Madsen mit wunderbar samtigem und tragfähigen Sopran sowie großartig emotioneller, gegenüber Benjamin zutiefst empathischer Ausstrahlung. Als Kind sollte sie von Angela Simkin dargestellt werden, die jedoch krankheitsbedingt ausfiel. Innert 4 Tagen (!) übernahm Sophie Bareis diese Rolle zusätzlich zur unten genannten und hat sie brillant über die Bühne gebracht.
Fenja Lukas, Martin Achrainer, Sophie Bareis, Suzanna Petrasová.
Die Kuscheltiere waren aus dem Opernstudio besetzt: die blaue Ente (Mezzo – Zuzana Petrasová), der rote Hase (Tenor – Martin Enger Holm), der gelbe Teddy (Baßbariton – Felix Lodel) und der schwarzweiße Harlekin (Sopran – Sophie Bareis), alle vier stimmlich wie darstellerisch hervorragend.
Die beiden Zeitungsjungen Jonathan Hartzendorf und Alexander York wurden mit ihren erstklassigen Stimmen auch immer wieder durch Kostümvarianten als Zeitkommentare eingesetzt – und aus dem 2. Weltkrieg ist einer der beiden nimmer zurückgekommen…
Die Eltern Button waren der solide baßfundierte und auch als Schauspieler immer brillante Michael Wagner mit Gotho Griesmeier als seine adäquate Partnerin.
Der Doktor Keene von Matthäus Schmidlechner ist für den hervorragenden Charaktertenor, der uns in Linz 20 Jahre lang verläßlich perfekte und elaborierte Rollengestaltungen, vom Cochenille über den Oberkellner Leopold bis zum Mime bescherte, die letzte Premiere am Landestheater. SEHR schade, daß er geht, aber ein ganz kräftiges toi, toi, toi für seine zukünftigen Pläne!
Fenja Lukas als Kindermädchen und Manuela Leonhartsberger (Hausmädchen, beide in zwei Epochen) füllen ihre kleineren Rollen mit ihren vorzüglichen Stimmen und engagiertem Spiel perfekt aus. Unter den Chorsolistenrollen seien Ulf Bunde als köstlicher Straßenmusikant und Michael Dimovski als düsterer Wanderprediger besonders lobend hervorgehoben.
Nota bene: auch diese höchst anspruchsvolle Produktion wurde solistisch, wie „La Juive“, allein aus dem vorhandenen Ensemble besetzt!
Der machtvolle Chor des Landestheaters Linz, samt Kinder- und Jugendchor (Leitung Elena Pierini und David Alexander Barnard) beeindruckte erneut.
Unter dem Dirigat von Ingmar Beck geriet der Uraufführungsabend zur Vorstellung aus einem Guß, ebenso spannend, emotionell wie präzise. Das groß besetzte Bruckner Orchester mußte natürlich auch bei wahnwitzig komplizierten, rhythmisch auf gemeinste Weise in Konflikt stehenden, aber dramaturgisch perfekt motivierten Bläserfiguren früh im Stück nicht straucheln. Vielmehr überzeugte es einmal mehr mit Präzision, Klangfarbenreichtum und wunderbaren Solistenleistungen als bestmöglicher Partner für die Bühne.
Schlußapplaus mit Auftritt von Febel. Foto: Petra und Helmut Huber
Nach 1:50 Stunden großer, einhelliger Applaus aus dem ausverkauften Saal. Er erreichte zwar nicht Begeisterungsstärke, galt aber ungeschmälert auch Produktionsteam und Verfasser. Es sind für dieses dichte, emotionelle und trotzdem unterhaltende Werk noch 5 Aufführungen bis Saisonende geplant.
Petra und Helmut Huber