Linz: „LE NOZZE DI FIGARO“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 15. 01.2022
Ensemble: Foto: Herwig Prammer
Commedia per musica in vier Akten von Lorenzo Da Ponte nach der Komödie La folle journée ou Le mariage de Figaro von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, Musik von Wolfgang Amadé Mozart
In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Corona ist, nicht nur, was die Theaterwelt betrifft, eine im eigentlichen Sinne diabolische Seuche – denn „Diabolos“ bedeutet wortwörtlich im Altgriechischen (διάβολος) „Durcheinanderwerfer“. Durcheinandergeworfen wurden nämlich die Spielpläne so gut wie aller Bühnen weltweit, nicht anders Linz. Eigentlich hätte die erste der da-Ponte-Opern Mozarts ja schon vor einem Jahr ihre Premiere im neuen Musiktheater haben sollen – aber immerhin kann sie heute zum anfangs der aktuellen Spielzeit geplanten Datum über die Bühne gehen, wenn auch mit früherer Beginnzeit, von wegen Sperrstunde.
François De Carpentries hat seit 2017 alle Linzer Mozart-Produktionen inszeniert; die „Nozze“ vervollständigen dabei sein da-Ponte-Menü. Am liebsten von diesen Inszenierungen erinnern wir uns an die „Così“ (für das Opernstudio, aber alles andere als „schülerhaft“!), nicht begeistert waren wir von „Tito“. Für Bühne und Kostüme ist, wie immer mit diesem Regisseur, die Freundin schöner Stoffe, Karine Van Hercke verantwortlich. Sie entwirft in einer abstrahierten Kulisse eine ironisch (mitunter wörtlich) zugespitzte, prachtvoll-dekadente Rokokowelt für das Grafenpaar, im noch teils sichtbaren Abglanz des einstigen Sonnenkönigs. Hinter dieser lauert aber schon, Akt für Akt klarer, die Revolution: die Uhr tickt, auch auf den Projektionen von Aurélie Remy. Die Diener-Ebene ist an der Commedia dell’arte orientiert. Das Volk („sansculottes“) zeigt auch, etappenweise immer deutlicher, Tricolore, Kokarden und Jakobinermützen – bis schließlich, als Kontrapunkt zum (ja auch nicht so ganz schattenfreien happy-end gemäß da Ponte) im Hintergrund Heugabeln, Sensen und die Guillotine zu sehen sind (Dramaturgie: Anna Maria Jurisch).
Was zeitlich wie räumlich davor abläuft, ist auf Ebene der Personenführung textlich wie psychologisch feinst ausgearbeitet und bis ins winzigste Detail lebendig, engagiert und emotionell überzeugend gespielt, bis hin zu Chorsolistenrollen. Z. B. haben wir zum ersten Mal die Verkleidungen im vierten Akt szenisch wirklich plausibel erlebt (nur die zwei Pavillons wurden zu einem einzigen hohlen Baum). Der Abend beginnt auch mit dem nachgerade schon ungewöhnlichen musikalisch-kontemplativen Luxus einer Ouverture mit geschlossenem Vorhang. In Hinblick auf den „Klassik-Treffpunkt“ mit Martin Kušej, früher am selben Tag, könnte man durchaus sagen: das Regieteam hat so ziemlich das Gegenteil der Dinge gemacht, die der Burgtheaterdirektor als seine Maximen verkündet hat – und Carpentries und Co. haben damit zu 100 % ins Schwarze getroffen! Da brauchts keine plumpen #MeToo-Implantate ins Jahr 1789, da genügt der Hinweis auf den gleitenden Übergang vom ius primae noctis in die gewöhnliche männliche Übergriffigkeit; in dem Zusammenhang sind wohl mehrere Schwangerschaften und Kleinkinder im Chor zu erklären…
Martin Achrainer. Foto: Herwig Prammer
Ein anfangs überaus selbstsicherer, natürlich standesgemäß mit „culottes“, und generell prachtvoll bekleideter Graf Almaviva, der Stück für Stück verunsichert und demontiert wird, bis er seiner Gattin – nur bildlich gesprochen – aus der Hand frißt: Martin Achrainer mit Expression und – sorgfältig dosiert unterminierter – Noblesse in Spiel und Stimme. Seine Gattin ist die nach Fidelio-Leonore und Mimi erneut begeisternde Erica Eloff; sie transportiert mit „Porgi, amor“ und noch mehr „Dove sono i bei momenti“ in beeindruckender Gesangskultur intensivste Emotionen, ist aber genauso, etwa im Zusammenspiel mit Susanna zu, bisweilen maliziöser, Komik fähig und löst schließlich als ehrfurchtgebietende „dea ex machina“ die Wirrungen auf.
Fenja Lukas, Anna Alàs i Jové , Erica Eloff. Foto: Herwig Prammer
Ihr Gegenstück und Partnerin in der rettenden Intrige, Susanna: Fenja Lukas mit vorzüglicher, auch in allen schauspielerischen Modulationen sattelfester Stimme, selbstbewußter wie humorvoller Bühnenpräsenz und sportlicher Beweglichkeit. Adam Kim als die Titelfigur ist als ebenso körperlich agiler Komödiant und expressiver Sänger auf Augenhöhe zu seiner Verlobten, mitunter könnte er aber noch ein, zwei dB an Schalldruck zulegen.
Die dritte zentrale Darstellerin dieser Oper, in der Frauen, wie meist bei da Ponte, die Oberhand haben, ist Anna Alàs i Jové als stimmlich wie in vergnüglichem Spiel und akrobatischer Körperbeherrschung brillanter Cherubino. Barbarina Etelka Sellei beeindruckt in ihrer kleinen Rolle ebenso.
Martin Achreiner, Fenja Lukas. Foto: Herwig Prammer
Marcellina (Gotho Griesmeier), Bartolo (Michael Wagner) und Basilio (Matthäus Schmidlechner, auch Don Curzio) runden als stimmlich exzellente komödiantische Persönlichkeiten zusammen mit Tomaz Kovacic als Gärtner Antonio das Ensemble auf hohem Niveau ab. Antoaneta Mineva und Stephanie Pena-Neuhauser überzeugen als Solistinnen des vorzüglichen Chores des Landestheaters Linz, einstudiert von Elena Pierini.
Markus Poschner leitet das Bruckner Orchester Linz. Die Ouverture nimmt er extrem schnell, an der Grenze der Spielbarkeit: die Revolution brodelt schon im Untergrund. Der Rest des Abends ist zwar unspektakulär, aber nur deswegen, weil alles mit Perfektion und bester Abstimmung Bühne zu Graben funktioniert, und mozartgemäße Transparenz (Grabenboden leicht angehoben), Spannung und Eleganz herrschen.
Tosender Applaus, Jubel, standing ovation – ausdrücklich das Produktionsteam eingeschlossen, mit Betonung für Graf, Gräfin, Susanna und Cherubino!
Petra und Helmut Huber