„Io son dannata!“ – Cavalleria Rusticana und Pagliacci am Landestheater Linz, Vorstellung vom 17.02.2024
In den 1880er Jahren herrschte am Italienischen Opernmarkt eine erbitterte Konkurrenz zwischen den Musikverlagen Sonzogno und Ricordi: Letzterer hielt die Rechte an den Werken Verdis, welcher nach Aida (1871) nur noch zwei Opern schreiben sollte (Otello und Falstaff) und sich bereits 1873 aus dem aktiven Komponistenleben auf sein Landgut Sant’Agata zurückgezogen hatte. Außerdem war Ricordi im Besitz der Rechte an den Werken Rossinis, Bellinis und Donizettis. Sonzogno hingegen hatte die großen Namen des französischen Fachs in Italien unter Vertrag, beispielsweise Bizet, Berlioz und Gounod. Zwar blickte die Opernwelt damals ohnehin nach Paris, doch setzte sich auch in Italien auch in Bezug auf die Oper mehr und mehr der Gedanke des Risorgimento durch, italienische Werke wurden zunehmend gefragt. Hinzu kam, daß Ricordi einen radikalen Ansatz fuhr: Wenn ein Haus Werke bei Sonzogno kaufte, wurde es von Ricordi nicht mehr beliefert. Sonzogno entschied sich in Folge für eine geschickte Strategie, um neue, italienische Komponisten unter Vertrag zu bekommen und sponsorte ab 1883 Komponierwettbewerbe für Opern. Der erste Wettbewerb dieser Art führte zu zahlreichen Einreichungen, unter anderem der ersten Oper eines gewissen Giacomo Puccinis, einem Werk namens „Le Villi“ – welches jedoch wegen Unleserlichkeit der Partitur nicht berücksichtigt wurde. Ironischerweise wurde das Werk bereits im Mai 1884 dennoch am Mailänder Teatro Dal Verme uraufgeführt und zwar unter Vertrag Ricordis, der Puccinis Talent erkannte und bis heute alle Werke des Lucchesen verlegt. Nichtsdestotrotz zahlte sich Sonzognos Sponsoring der Wettbewerbe aus, er sollte Werke wie Andrea Chénier und Adriana Lecouvreur auf die Bühnen bringen können und eben auch zwei Opern, die bald in fast untrennbarer Beziehung zueinander stehen sollten.
Denn bereits der zweite Wettbewerb Sonzognos 1889 brachte als Sieger Pietro Mascagnis Einakter „Cavalleria Rusticana“ hervor. Mascagni entschied sich, das sizilianische Landleben eindringlich und schonungslos real zu schildern, anstatt der damals noch üblichen Ständeklausel zu folgen. Gleichzeitig schrieb er die Cavalleria nicht als Komödie, die sie entsprechend des ländlichen Milieus, in dem sie spielt, bis dahin hätten sein müssen. Der Verismo war geboren. Die Cavalleria war ein einschlagender Erfolg und führte dazu, daß Ruggero Leoncavallo in ihm eine neue Perspektive sah. Er war bislang bei Ricordi unter Vertrag, wurde dort aber kaum eingesetzt. Nun nutzte er die Möglichkeit, schrieb den Pagliacci und wechselte 1890 mit diesem zu Sonzogno. 1892 wurde die Oper mit ebenfalls riesigem Erfolg, ebenfalls am Mailänder Teatro Dal Verme unter Arturo Toscanini uraufgeführt. Bereits ein Jahr später schafften es beide Werke nach New York, wo sie erstmals gemeinsam an einem Abend gezeigt wurden. Seit dem 18. November 2023 läuft das Verismo-Duo nun am Landestheater Linz und der Abend beginnt vielversprechend: Maestro Claudio Novati lässt das Vorspiel zur Cavalleria Rusticana friedlich und harmonisch beginnen. Majestätisch sehen wir Sizilien vor unserem geistigen Auge mit seiner schroffen Schönheit im Mittelmeer liegen, geprägt von den sanften Hügeln, den Macchia-Büschen, den blühenden Zitronen- und Mandelbäumen. Dazwischen die vulkanischen Erhebungen des Ätna, die sich gemeinsam mit der Steigerung der Streicher über die Insel erheben – bis mit einem mal die Rufe Turiddus abrupt einsetzen und unseren Blick auf das sich nun stattfindende Drama werfen: „O Lola ch’ai di latti la cammisa…“. Schnell wird klar: Frieden und Ruhe, die wir zu erahnen meinten, sind trügerisch!
Auf der Bühne zeigt sich ein Split-Screen Verfahren: Schwarze, verschiebbare Trennlinien umrahmen in einzelnen Bildern das Geschehen, welches somit auch verschiedene Orte und Perspektiven gleichzeitig zeigen kann. So sehen wir Santuzza alleine zwischen verwahrten Stühlen sitzen, isoliert und einsam, sie muss Turiddus Minne an Lola mit anhören, hält sich die Ohren zu und kauert leidend vor sich hin. Gleichzeitig sehen wir Turiddu und Lola bei ihrem Tête-à-Tête. Doch der Chor suggeriert weiter eine ländliche Harmonie, die es nur in einer romantisierenden Vorstellung gibt: “Gli aranci olezzano sui verdi margini, cantan le allodole tra i mirti in fior.“ Das Vorgeben einer harmonischen Dorfgemeinschaft, einer ländlichen Idylle, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die stattdessen von Lüge, Niedertracht und Brutalität geprägt ist. Ein Abgesang an das Konzept der romantischen Oper eben, mit drastischem Kontrast macht Mascagni klar, dass er das wahre Leben zeigen, den Verismo nutzen will um über die Realität in aller Vielfalt und damit auch von Grausamkeit, Not, Elend und Leid zu erzählen, ja es regelrecht in die Welt hinausschreien will. Und das Leid Santuzzas wird von Elena Batoukova-Kerl genau so dargestellt, wir fühlen, wie es sie von innen heraus verzehrt. Turiddu lügt ihr ins Gesicht, beschämt sie und schändet sie jeden einzelnen Tag. Eindringlich verhallen die Worte Santuzzas: „Quale spina ho in core!“
Passend zum Zeitpunkt der Geschichte am Ostermorgen inszeniert Alexandra Liedtke das Werk gewissermaßen als Passionsspiel und lässt das „Innegiamo“ zu einer Massenszene werden: Chor und Extrachor steigern sich in der Anbetung der Marienstatue in einen rauschähnlichen Zustand, zeigen völlige Hingabe an den wiederauferstandenen Christus und werden dabei als Altarbild inszeniert, welches in seiner Strahlkraft einem Werk Caravaggios entsprungen sein könnte: „Gaude et laetare, Virgo Maria. Alleluja! Quia surrexit Dominus vere Alleluja!“ – bereits hier erleben wir einen bombastisch klingenden Chor, dessen Ausdruckskraft durch das Brucknerochester noch verstärkt wird. Doch steht hier eigentlich die Auferstehung Christi im Vordergrund oder verlieren sich die Bewohner des Dorfes in bedingungsloser Marienverehrung? Ist es nicht Santuzza, die hier als Leidende eine Passion erfährt und das eigentliche Sinnbild Marias ist, während die Gemeinde sie als Aussätzige behandelt und das Osterfest ohne sie begeht? Die durch im „gestellten“ Altarbild erzeugte Ästhetik der Kunst der alten Meister unterstreicht den Kontrast zwischen dem romantischen Bild des Landlebens und der harschen, hier dargestellten Realität. Die Dorfgemeinschaft fleht gemeinschaftlich nach Erlösung und doch kämpft hier jeder für sich alleine, ohne Rücksicht auf den Nächsten. Man nehme nur die Schamlosigkeit Lolas: Verführerisch, leicht, tändelnd und spielerisch tritt hier Angela Simkin auf, die ihre Ehe und alle Umstehenden völlig ignoriert. Ist es schon bewusste Qual, ja nahezu Sadismus, wenn sie Santuzza beim Flirt mit Turiddu zuschauen lässt? „Fior di giaggiolo, gli angeli belli…“ wird somit zum süßen Gift, welches zwar schön klingt, doch von Hass und Mißgunst verseucht ist.
Genauso Alfio, der sich als erfolgreicher Geschäftsmann feiern lässt und seine Frau so sehr vernachlässigt, daß er nicht einmal den Ehebruch realisiert. Turiddu der ohne Scham Santuzza nur benutzt hat und sie nun einfach wegwirft. Lucia die Santuzza die Schuld am Verhalten ihres Sohnes gibt. Lola die trotz ihres Ehebruchs der Messe beiwohnt und in dieser auch noch flirtet. Und auch Santuzza selbst, die Turiddu verrät und ihn im wahrsten Sinne des Wortes ans Messer liefert. Doch Erlösung gibt es für niemanden von ihnen, sie alle sind Sünder, ohne es zu wissen umreisst Santuzza das Schicksal Aller: „Io son dannata!“
Der Osterfriede den das Intermezzo verkündet und in dem das Brucknerorchester einmal mehr zu absoluter Hochform aufläuft, erhöht noch einmal den Kontrast zwischen der dargestellten Realität und der Erlösung, die hier zwar hörbar und zum Greifen nah, doch für alle unerreichbar ist. Am Ende steht der Tod Turiddus der hier regelrecht niedergemetzelt wird und den Lolas Sohn (dessen Vaterschaft letztlich ungewiss ist) mit ansehen muss. Während er mit eben jenem Messer spielt, mit dem Turiddu gerade erstochen wurde, muss Alfio erschrocken erkennen, daß es auch für den Sohn kein Entkommen gibt und auch er in der Spirale von Gewalt und Rache gefangen sein wird.
Die Motive von Einsamkeit, emotionalem Missbrauch und Rache ziehen sich im Pagliacci weiter, die Brücke wird durch den Prolog geschlagen, in welchem Adam Kim nun als Tonio noch immer das Kostüm Alfios trägt und einen von ihm in der Cavalleria erjagten Fasan in den Händen hält. Frau Liedtke behält das Konzept des Split-Screens bei, auch die Kostüme bleiben ident und auch hier sehen wir einen stark besetzten, dynamischen Chor, der uns fast an das Publikum eines römischen Amphitheaters erinnert: Brot und Spiele werden verlangt, Canios Truppe soll sie liefern. So wirkt dann Canios Versprechen: „Il teatro e la vita non son la stessa cosa!“ als grausame Vorhersage und entlarvende Erkenntnis über die Brutalität und Gnadenlosigkeit der Lebenswirklichkeit. Sung-Kyu Park (der bereits in der ersten Hälfte des Abends den Turiddu sang) gelingt es hier als starkes Gegengewicht zum Chor zu wirken. Die Leichtheit, mit der die Bauern Bespaßung fordern, eben eine romantische Komödie, wird Ton für Ton durch das zunehmende Gewicht seines Tenore Spinto beiseite geschoben, um dem veristischen Geschehen Platz zu machen. Das ist bei einer Spinto Lage umso beachtlicher und wird von ihm auch noch durch authentisches Spiel befördert. Mit jeder Sekunde können wir das Herannahen des bitteren Endes wahrhaftig spüren.
Sung-Kyu Park. Matthäus Schmidlechner. Foto: Herwig Prammer für Landestheater Linz
Nedda scheint hier zunächst ein Gegensatz zu sein, Ilona Revolskaya füllt sie mit jugendlicher Neugierde, einem unbedarften, fast sorgenfreiem Blick auf das Leben und nutzt die Vogelarie auf ideale Weise um den Lebensdurst dieser jungen Frau anschaulich zu machen. Leichtfüßig im Klang, mit herrlichem Vibrato, kristallklar und rein folgt sie auch stimmlich in ihrer Sehnsucht dem Flug der Vögel. Dabei sind ihre Gedanken nichts als artikulierter Eskapismus, flieht sie doch vor den alltäglichen Bedrohungen ihres Umfelds, den Belästigungen Tonios, der Eifersucht und dem Druck Canios und allgemein den ärmlichen Verhältnissen des fahrenden Volkes: „Ma basti, orvia. Son questi sogni paurosi e fole!”. Auch die Vogelarie ist also ein Wunsch nach Erlösung, der gleichzeitig verdeckt, daß Nedda keinesfalls so rein und pur ist, wie der Gesang Frau Revolskayas. Auch sie lässt es an Menschlichkeit an Empathie gegenüber dem verkrüppelten Tonio vermissen, verspottet Canio und ist vor allen Dingen auf ihr eigenes Wohlergehen fokussiert, welches sie mit dem Bauern Silvio verknüpft. Sie ist also kein gegensatz zu canio, sondern nur eine andere Form vergleichbare Verhaltens.
Wieder sehen wir den Chor in einem tableauartigen Arrangement, diesmal stillstehend, aus der Zeit gehoben, als habe jemand für dieses Bild die Stopp-Taste gedrückt. Es ist nicht sicher, ob sich die Dorfbewohner auf diesem Bild prügeln oder ob sie – wie sich dann herausstellt – einfach im Durcheinander vor der Vorstellung der Komödianten Stühle rücken und sich den jeweils besten Platz suchen. Daß dieses Bild zuvor für einige Zeit still steht hat seinen Grund, denn mit „Vesti la giubba“ offenbart Canio sein Innerstes, auch er ist eine leidende Figur, auch er ist Mitverursacher seines Leidens. Denn anstatt Nedda gehen zu lassen, zwingt er sie, bei sich zu bleiben und quält sie gleichermaßen wie sich selbst. Herrn Park gelingt es hier tatsächlich die Zeit stehen zu lassen, so gefühlvoll und intensiv gelingt ihm die Arie des Bajazzo und wir erleben einen Mann der verzweifelt ist und die andauernden Demütigungen des Alltags nicht mehr erträgt und letztlich Amok läuft. „No, Pagliaccio non son!“
Es ist keine Überraschung, daß die Zuschauer des dann aufgeführten Schauspiels im Schauspiel zuvor der Messe beiwohnen. Wieder ist die Frage jene nach Erlösung, wenngleich die Drastik des Pagliacci noch brutaler ist als in der Cavalleria und eine noch modernere, sozialkritischere Sprache findet: Können prekäre Verhältnisse überhaupt ein glückliches Leben ermöglichen, oder führen sie zwangsläufig zu Konflikten, die im schlimmsten Fall mit dem Tod enden?
Diese Frage wird eindringlich an diesem Abend vom Beginn der Cavalleria bis zum Ende des Pagliacci aufgeworfen und dank der zeitgenössischen, aber werktreuen Produktion sehr fassbar gemacht. Alle Musiker agieren dabei auf höchstem musikalischen Niveau und schaffen es, den Abend in Erinnerung bleiben zu lassen. Bewegend, mitreissend, harsch und schonungslos, eben echter Verismo. „La commedia è finita“ – bravi tutti!
E.A.L.