Linz: „LA BOHÈME“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 25. 09.2021
Ensemble. Foto: Barbara Palffy für Landestheater
Oper in vier Bildern nach dem Roman „Szenen aus dem Leben der Bohème“ von Henri Murger und dem Drama „Das Leben der Bohème“ von Henri Murger und Théodore Barrière. Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica unter Mitwirkung von Giacomo Puccini und Giulio Ricordi, Musik von Giacomo Puccini
In der Linzer Theaterstatistik nimmt dieses Hauptwerk des Verismo inzwischen unter den Opern den zweiten Platz ein: seit 1945 hat es bislang 190 Aufführungen gegeben, nur die „Zauberflöte“ gab man häufiger. Zum ersten Mal wurde die Geschichte der armen, mehr oder weniger ambitionierten jungen Leute dem oberösterreichischen Publikum allerdings erst am 15. Dezember 1906 präsentiert, also mehr als 10 Jahre nach der Uraufführung in Turin. Bei anderen Werken war die Linzer Direktion mutiger/schneller, und das gilt nicht nur für Operetten.
Die Inszenierung des Linzers Georg Schmiedleitner, Mitbegründer des „Theater Phönix“, der inzwischen im ganzen deutschen Sprachraum als Regisseur an ersten Häusern arbeitet, placiert die Handlung in einer nicht näher definierten Moderne, nicht unbedingt schäbig, aber kalt und oft abweisend – insbesondere an der Zollschranke im 3. Bild. Letztere hält zum Aktschluß hin noch eine durchaus emotionell wirksame Zusatzfunktion bereit.
Rodrigo Porras-Garulo, Martin Achrainer, Dominik Nekel. Foto: Barbara Palffy für Landestheater
Die Bühne von Sabine Mäder ist auch sonst meist handlungsdienlich. Nur die Bleibe der vier Freunde im 1. Bild – nicht eine Dachkammer, sondern ein Wohncontainer – hat akustisch und szenisch ihre Tücken: die sonst, im mittleren bis vorderen Bühnenraum, exzellente Durchhörbarkeit und Diktion aller Sängerinnen und Sänger ist in dem obwohl großteils wandlosen Kabäuschen links hinten, von etwa 4 x 6 m Größe, stark reduziert. Zur Kompensation dieser etwas abgelegenen Ubikation werden von einem Kameramann (Oliver Lasch) auf der Bühne Großaufnahmen der Containerbewohner gemacht, die auf eine Fläche in der rechten Bühnenhälfte projiziert werden, hinter der sich die Theke des „Momus“ versteckt. Nicht nur stört das Herumgewusle des Kameramannes, sondern ist auch die Übertragung immer wieder von Aussetzern und Verpixelungen zerhackt.
Seitens der Personenführung wird die Geschichte auf der Handlungs- wie Emotionsebene sehr deutlich und gradlinig erzählt, und wird auch letztere Ebene musikalisch sehr sorgfältig gestaltet. Das ist das Werk von Markus Poschner, der das Bruckner Orchester Linz präzise und transparent musizieren läßt und natürlich auch die Koordination zwischen Graben und Bühne perfekt im Griff hat. Dazu kommen noch sorgfältig überlegte Färbungen wie z. B. der plötzlich viel weichere Orchesterklang, als Mimì erstmals auftaucht, und natürlich eine leise wie unerbittliche Emotionalität im 4. Bild.
Rodrigo Porras-Garulo, Erica Eloff. Foto: Barbara Palffy für Landestheater
Die Kostüme wurden von Martina Lebert gestaltet – natürlich darf sie sich im Momus-Akt austoben, was sie durchaus unterhaltsam macht. Der schönste Mann, der Tambourmajor, wird dem Publikum allerdings vorenthalten – den darf nur der Chor begaffen. Musetta war aber textwidrig schwarzhaarig, dafür in Rot gekleidet – das Volk bei Momus ist zwar eher weiß bis pastellfarben, weist aber auch viele kräftige Farbakzente auf. Die zweite weibliche Hauptfigur verliert so etwas an Betonung. Dafür gönnt das Design Schaunard sogar einen (doppelten) Frack, sozusagen als Palimpsest der originalen Handlungsepoche, nicht nur als Hinweis auf seinen Beruf.
Erica Eloff hatte sich in Linz in der Vorsaison mit einer mehr als achtbaren Fidelio-Leonore vorgestellt. Als Mimì muß sie deutlich andere Anforderungen erfüllen – und das macht sie in durchaus herzergreifender Weise wunderbar. Alleine schon, wie sie ihre „Selbstauskunft“ („Si, mi chiamano Mimì“) modelliert und strukturiert – man spürt fast körperlich das ganze Leben der armen Näherin. Ebenso emotionell mitreißend ihre Auftritte im 3. Bild, alleine wie mit Rodolfo, und natürlich ihre Verzweiflung und schließliches Verdämmern im 4. Bild.
Martin Achrainer, Rodrigo Porras-Garulo, Erica Eloff, Dominik Nekel. Foto: Barbara Palffy für Landestheater
Rodolfo ist der Gast Rodrigo Porras Garulo; der gebürtige Mexikaner ist derzeit in Hannover engagiert, mit zahlreichen hochkarätigen Gastauftritten. Er hat sozusagen alle großen italienischen Partien (dazu auch z. B. Max, Hoffmann und Don José) im Repertoire – bis hin zum Duca als Gegenüber von Leo Nuccis Rigoletto an der Scala. Diesem beruflichen Stammbaum macht er auch heute in Linz alle Ehre, mit erstklassig geführter, samtig abgerundeter, bei Bedarf durchschlagskräftiger Stimme, die alle Emotionen überzeugend abdeckt, und ebenso gut trauern, flehen wie strahlen kann. Er ist für Erica Eloff ein Partner auf Augenhöhe, was natürlich einem ausgewogenen Gesamtbild der Produktion gut tut.
Die quicklebendige und freche Musetta von Ilona Revolskaya fügt sich in das hohe Niveau in Spiel und Gesang ebenso gut ein, natürlich im 4. Bild dann auch mit einem wesentlich gedämpfteren Auftreten.
Die Freundesrunde Marcello, Schaunard und Colline ist mit Adam Kim (sehr überzeugend emotionell im 3. Bild), Martin Achrainer (mit sehr feiner Lyrik) und dem liebenswerten Philosophen von Dominik Nekel auch ganz wunderbar abgedeckt, stimmlich wie mit ausdrucksstarkem Spiel.
Ilona Revolskaya, Reinhard Mayr. Foto: Barbara Palffy für Landestheater
Grégoire Delamare (vom Opernstudio) gibt in sehr dick aufgetragener Maske – es wurde wohl wieder einmal der Clown als Zerrbild des Todes herangezogen – den fahrenden Händler Parpignol. Reinhard Mayr gestaltet als komische Auflockerung der tragischen Geschichte einen alles andere als nüchternen Benoît und den bei Momus buchstäblich bis zum Umfallen zahlenden Alcindoro.
Chorsolisten (Markus Raab, Marius Mocan, Domen Fajfar und Jin Hun Lee) übernahmen Zollbeamte und Verkäufer.
Ebenso auf hohem Niveau der Chor sowie der Kinder- und Jugendchor des Landestheaters, Leitung Elena Pierini bzw. Olga Bolgari, unterstützt von der Statisterie.
Begeisterung im Publikum, bis zur standing ovation, für eine gefühlvolle, trotzdem klar und unsentimental gezeichnete Produktion.
Petra und Helmut Huber