Rob Pelzer, Kristin Hölck, Karl Poms, Elizabeth Nina Weiß. Copyright: Reinhard Winkler
Linz: „BETTY BLUE EYES – DAS MUSICAL MIT DEM SCHWEIN“ – Premiere (deutschsprachige Erstaufführung) am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 24. 02.2018
Buch von Ron Cowen und Daniel Lipman, Gesangstexte von Anthony Drewe, Musik von George Stiles; nach dem Handmade-Film A Private Function (Magere Zeiten) und der Original-Story von Alan Bennett und Malcolm Mowbray, Bühnenadaption des Drehbuchs von Alan Bennett, Originalproduktion in London von Cameron Mackintosh.
In deutscher Sprache mit Übertiteln; Deutsch von Roman Hinze
Nicht nur die Gebiete, die bis 1945 das Deutsche Reich ausmachten, oder die von diesem besetzt waren, hatten unter dem Krieg zu leiden. Auch die Briten, die nur unter äußerster Anstrengung dem deutschen Angriff getrotzt hatten, und die durchaus beträchtlich von Bomben, Marschflugkörpern und Fernraketen getroffen worden waren, standen im Mai 1945 vor einer zerrütteten Wirtschaft. Und wenn Premierminister Clement Attlee „Gerechtigkeit für alle“ versprach (und damit gleich verteilte Not, außer für die Gleicheren, meinte) hieß das also: staatliche Mangelbewirtschaftung, Weiterführung der kriegszeitlichen Lebensmittelkarten und anderer Rationierungsmaßnahmen. „Roast pork“ war unter diesen Umständen etwas, an das man alles andere als leicht und legal herankam, und mit dessen (illegaler) Verfügbarkeit man durchaus Vorteile erkaufen – oder erpressen – konnte.
Rob Pelzer am Fahrrad („Holländer“ in artgerechter Haltung?) und Ensemble. Copyright: Reinhard Winkler
Darüber und um die bis zum leichten Irrsinn weitergedachten Konsequenzen im England des Jahres 1947 (dem Jahr, als Thronfolgerin Elizabeth ihren Philip Mountbatten heiratete) drehte Malcolm Mowbray 1984 einen Film. Dieser schildert den nicht so einfachen gesellschaftlichen Aufstieg des Fußpfleger/Klavierlehrerin-Ehepaares Chilvers (Michael Palin und Maggie Smith), das um ein gutbürgerliches, aber geheimes Mastschwein weiß… „It’s not pork, Gilbert, it’s power!“. Die Musicalversion des Autorenduos, das z. B. mit „Honk!“ oder der Bühnenfassung von „Mary Poppins“ große Erfolge eingefahren hat, wurde am 13. April 2011 im Londoner Westend am Novello Theatre uraufgeführt.
Der Text transportiert die Geschichte gut und kann auch in der Übersetzung (dramaturgische Nachschärfung: Arne Beeker) mit Wortspielereien und boshaftem Witz aufwarten. Die Musik klingt zum (kleineren) Teil nach heutigem Musical-Einheitsmuster; dort aber, wo der Epoche der Handlung gemäße (Tanz-)Rhythmen von Jive bis Tango einsetzen, auch in den größeren Ensembles, hört man charmante musikalische Einfälle, passend arrangiert – die nach dem Muster einer klassischen britischen Dance Band besetzte, in Linz entstandene Gruppe Black Betty and Friends klingt dann durchaus etwa wie das Orchester von Bert Ambrose (Musikalische Leitung vom Flügel aus: Tom Bitterlich). Abgesehen davon: in welch anderem Werk gibt es Musik, mit der Gestank besungen wird!?
Jonathan Agar, Lynsey Thurgar, Betty, Rob Pelzer. Copyright: Reinhard Winkler
Christian Brey hat epocheentsprechend inszeniert, wobei die Wechsel zwischen Außenräumen und der Wohnung der Chilvers witzigerweise technisch sehr ähnlich wie die Verwandlungen der kürzlichen hiesigen „Frau ohne Schatten“ wirken. Der Gesamteindruck ist temporeich, oft nahe an einem Stück von Georges Feydeau; es gibt keine Längen, und die Personenführung ist plausibel, humorvoll und spannungsreich. Die Massenszenen (Choreografie: Kati Farkas) sind dazu adäquat arrangiert. Die Bühne führt uns einerseits in einen durch Zitate alter Werbung gekennzeichneten Außenraum, der durch Kulissenrahmen Tiefe erhält; die Wohnung der Hauptfiguren ist punktgenau auf die 40er-Jahre fokussiert. Die Kostüme (samt perfekt passenden Haarstilen!) sind ebenso, liebevoll wie minuziös, epochegerecht gestaltet. Für dieses höchst gelungene Erscheinungsbild der Produktion zeichnet Anette Hachmann verantwortlich, unterstützt von Michael Grundner (Licht) und Valentin Huber (Video).
Rob Pelzer, April Hailer, Kristin Hölck. Copyright: Reinhard Winkler
Das entzückende blauäugige Schwein Betty, so in schief gegangener Verehrung für die Thronfolgerin, Elizabeth „Lilibeth“ Windsor, genannt, haxelt per Kurbelantrieb seiner Laufräder über die Bühne. Gebaut wurde die Titelfigur von Sebastián Arranz, und dirigiert wird sie von Lynsey Thurgar, die auch für einige, aber sicher nicht für alle Geräuscheffekte der Figur verantwortlich zeichnet.
Der vielfach preisgekrönte Publikumsliebling Rob Pelzer gibt den überaus gewissenhaften und als Therapeut geschickten, sozial aber nicht so recht talentierten Gilbert Chilvers: ein mit feinem Humor gezeichnetes, menschlich facettenreiches Porträt; mit seinem auch tänzerischen Körpereinsatz sowie perfektem Gesang bleiben absolut keine Wünsche offen. Seine merklich ambitioniertere, wenig geduldige Gattin Joyce wird von der ihrem „Gatten“ darstellerisch und sängerisch in keinem Aspekt unterlegenen Kristin Hölck verkörpert. Deren „Mother Dear”, eine explizit unwürdige, schrille und verfressene, wohl auch schon leicht veralzheimerte Greisin, ist eine köstliche und von April Hailer, mit ihrem Erfahrungsschatz von zahlreichen Engagements an ersten Häusern bis zu einer Personality Show im ZDF, wahrlich herzhaft ausgefüllte Rolle – zum großen Vergnügen des Publikums.
Die korrupten örtlichen Machtinhaber, Arzt James Swaby, Steuerberater Henry Allardyce und Anwalt Francis Lockwood werden von den Gästen Thorsten Tinney und Jonathan Agar (unterhaltsam: seine Biographie auf der Landestheater-website!) sowie dem in Linz schon in vielen Rollen brillanten Peter Lewys Preston punktgenau satirisch gezeichnet – dabei keineswegs eindimensional! Die von London entsandte Nemesis aller, die sich gerne von Fleisch ernähren, ist Riccardo Greco als sadistisch-hyperaktiver Lebensmittelkontrollor in „hunnischem“ Kleppermantel und Wurstfinger-Handschuhen, mit adäquater tenoraler und darstellerischer Dominanz auf der Bühne. Dieser Mr. Wormold ist stolz, im Ort schon zwei von drei Fleischern hinter Gitter gebracht zu haben – die Antwort auf die Frage, wo die Leute ihr Essen herbekommen, ist nicht Teil seines Auftrages.
Kleinere Solorollen oder Aufgaben im Ensemble übernehmen mit eindringlichen Auftritten Kira Primke, Christian Fröhlich, Ruth Fuchs, Brady Harrison, Wei-Ken Liao, Sabrina Reischl, Gernot Romic, Ariana Schirasi-Fard, Tomaz Kovacic, Bonifacio Galván, Ulrike Weixelbaumer, Jonathan Whiteley und die schon erwähnte Lynsey Thurgar. Besonders hervorzuheben aus diesem Kreis auch Hanna Kastner, Suzana Novosel und Tina Schöltzke als gelungene britische Epigoninnen der Andrews Sisters sowie Karl Poms und Elizabeth Nina Weiß als royales Brautpaar.
George Stiles und Anthony Drewe bei der Premierenfeier. Foto: Petra und Helmut Huber
Nach brutto 2 ¾ Stunden Aufführungsdauer und dem vergnüglich mindestens doppelbödigen happy end hochzufriedener Applaus, auch für das Produktionsteam und die anwesenden Autoren. Trotz der Gefahr, den phrasenzuständigen tönernen Artgenossen Bettys mit ein paar Euros füttern zu müssen: eine entzückende Sauerei!
Petra und Helmut Huber