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LINZ/ Landestheater: ANASTASIA. Musical von Terrence McNally, Musik von Stephen Flaherty. Premiere

11.09.2022 | Operette/Musical

Linz: „ANASTASIA“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 10. 09. in besonderer Zusammenarbeit mit Stage Entertainment, Tom Kirdahy und Hunter Arnold.

Musical von Terrence McNally, Musik von Stephen Flaherty, Liedtexte von Lynn Ahrens, inspiriert vom gleichnamigen Walt-Disney-Film von 1997 und früheren Verfilmungen mit Ingrid Bergman bzw. Lilli Palmer in der Titelrolle.

Deutsch von Ruth Deny (Dialoge) und Wolfgang Adenberg (Gesangstexte)

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Daniela Dett, Luisa Kircher. Copyright: Reinhard Winkler

Am 17. Februar 1920 wurde eine junge Frau nach einem Selbstmordversuch aus dem Berliner Landwehrkanal gefischt und in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert. Ihre Identität war unbekannt, und blieb das auch für längere Zeit. 1922 eröffnete sie dem Personal, daß sie eine Tochter des letzten russischen Zaren Nikolaus II. und dessen Gattin Alexandra, geb. Alix von Hessen-Darmstadt sei, also in Wirklichkeit Anastasia Nikolajewna Romanowa heiße. Es gab allerdings auch eine „passende“ Vermißte, eine 1896 geborene kaschubische Pächterstochter namens Franziska Schanzkowsky (eig. Francisca Anna Czenstkowski).

Nun waren die 1920er eine nach dem „Großen Krieg“, Revolutionen, Bürgerkriegen, Spanischer Grippe und politischen Morden höchst aufgewühlte, instabile und orientierungslose Zeit, nicht nur in Deutschland. Nachdem Berlin erst einmal zu einer sehr vorläufigen Ruhe gekommen war, blickte man auch nach Russland, wo 1917 die Kommunisten die Macht ergriffen hatten und ein Bürgerkrieg zwischen „Weiß“ (Bürgerliche und Zaristen) und „Rot“ tobte. Die Nachrichtenlage darüber war natürlich karg; aber man wußte so ungefähr, daß die Zarenfamilie von Petrograd nach Osten verschleppt worden und dort wohl einem Massaker zum Opfer gefallen war. Sollte diesem tatsächlich ein Zarenkind entkommen sein?

Sowas war natürlich ein Fressen für die Zeitungsleser, egal aus welchem Lager. Und auch das russische adelige Exil war aus naheliegenden Gründen elektrisiert. So fand „Anna“ auch immer wieder Möglichkeiten des Auskommens – bis zu ihrem Tode 1984 in den USA unter dem Namen Anastasia „Anna“ Manahan, geb. 1901. Mit dabei halfen groß angelegte Verfilmungen der rätselhaften Geschichte; postum gab es sogar einen „kindgerechten“ Trickfilm. Ihre wahre Identität wurde erst lange nach ihrem Tod durch den Untergang des Sowjetreiches und das Aufkommen der DNS-Tests klargelegt – schlußendlich mit dem Auffinden der letzten Opfer aus der Zarenfamilie bei Jekaterinburg im Sommer 2007.

Das Werk hält sich nur lose an die Geschichte, schildert das „Auferstehen“ der Anastasia der 1920er als Mischung aus Gaunerei und Zufällen, auch gewollter Selbsttäuschung, durchwebt von Bedrohungen durch die Tscheka; „… und doch …“ heißt es zum sehr weit offen gelassenen Schluß – Dramaturgie Arne Beeker.

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Tanzensemble. Copyright: Reinhard Winkler

Das Musical wurde 2012 konzipiert, aber näher an der historischen Detailtreue als der Trickfilm angelegt. Nach Voraufführungen in Hartford/CT fand die offizielle Uraufführung am 24. April 2017 am New Yorker Broadhurst Theatre statt; die deutsche Erstaufführung war am 15. November 2018 in Stuttgart.

Tom Bitterlich leitet präzise 14 Damen und Herren vom keyboard aus. Man nennt sich „Das Newa-Club-Orchester“ nach dem handlungsrelevanten Pariser Treff der russischen Exilanten. Die Musik läßt sich stilistisch mit dem score von „Mary Poppins“ vergleichen, wenn auch Ohrwürmer fehlen. Natürlich werden auch russische und Pariser Anklänge eingewoben, ohne klischeehafte Penetranz. Handlungszeitentsprechend ist der turbulente Höhepunkt der Pariser Szenen ein Charleston, und natürlich kommen auch Walzer und Tango vor. Und, weil man sich auch bei Diaghilev’s „Ballets Russes“ trifft: die Big-Band-artige Besetzung präsentiert auch einen Ausschnitt aus „Schwanensee“ musikalisch sehr anständig!

Die Inszenierung stammt (teils) von Spartenchef Matthias Davids und setzt auf sehr fein ausgearbeitete Charaktere, wobei der erste Akt mitunter etwas zögerlich läuft – was aber auch der Situation entspricht, in der sich die Figuren erst in der komplexen Handlung etablieren müssen. In Paris, also im zweiten Akt, geht es teils recht bunt und turbulent zu, wo dann auch die Choreografie (Kim Duddy) brillieren kann. Was, und das ist eigentlich der Hammer für ein Musical, auch eine sicher nicht ärmlich gestaltete klassische Ballettszene mit Spitzentanz einschließt! Kommt, seit Rogers‘ und Hart‘s „On Your Toes“ 1937, sicher nicht oft vor…

Bühne & Co-Regie: Andrew D. Edwards; sehr geschickte Gerüstkonstruktionen schaffen, mitunter zusammen mit Versatzstücken, Vorhängen, Flaggen und ausgefeilter Lichtgestaltung (Michael Grundner) klare und handlungsdienliche Raumsituationen. Darin machen die erneut (etwa wie bei „Titanic“) sehr epochegenau und wo angebracht auch opulent gestalteten Kostüme von Aleš Valášek gute Figur(en).

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Hanna Kastner, Lukas Sandmann. Copyright: Reinhard Winkler

Die Titelrolle wird von Hanna Kastner auf ihrem Weg von einer verzweifelten Existenz mit Amnesieproblemen auf den Straßen Petersburgs bzw. Leningrads bis zur selbstsicheren Hochstaplerin (oder doch nicht?) in Paris intensiv und klar definiert aufgebaut. Sie singt mit hohem Sopran, wortdeutlich. Ihr Spießgeselle – oder mehr? – Dimitri ist ein sängerisch und darstellerisch ebenso sattelfester Lukas Sandmann.

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Lukas Sandmann, Hanna Kastner, Karsten Kenzel. Copyright: Reinhard Winkler

Dritter im Bunde ist der schon zu Zarenzeiten als bunter Hund verrufene Wlad, köstlich und saftig von Karsten Kenzel als männlicher Teil des Komikerduos gestaltet. Seine Partnerin als Hofdame Lily ist eine außerordentlich vergnügliche Judith Jandl, hervorragend bei Stimme.

Die düstere Sowjetmacht mit ihren Konflikten und Verwüstungen bis in die Familien und Seelen ihrer auch gutwilligsten Anhänger hinein verkörpert Tschekist Gleb – eine vorzügliche, vielschichtige Leistung von Nikolaj Alexander Brucker.

Die Klammer der Geschichte liegt letztendlich bei der Zarenmutter, die von Daniela Dett mit der brüchigen Grandezza der untergehenden alten Welt, jedoch bewahrter Würde gespielt wird. Auch sie gestaltet die Rolle mit großartiger Stimme und feiner Diktion.

In weiteren Rollen überzeugten: als junge Anastasia Luisa Kircher, Zarewitsch Alexej Jakob Blaimschein, ferner, solistisch, teils im Mehrfacheinsatz, Joel Parnis, Gernot Romic, Sanne Mieloo, Celina dos Santos, Bettina Schurek und als Ensemble Anastasia Bertinshaw, Barbara Castka, Albert Jan Kingma, Nils Klitsch, Nathan Mitterbauer, Susannah Murphy, Maura Oricchio, Noa Joanna Ryff, Pascal Schürken, Aday Velasco und Hannah Moana Paul.

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Schlussapplaus. Foto: Petra und Helmut Huber

Viel Szenenapplaus, vor allem nach der Pause, wo es einfach die größeren show- und Schauwerte gibt, und schlußendlich standing ovation für Bühnenpersonal, Musik und das Produktionsteam.

Petra und Helmut Huber

 

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