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LINZ / Black Box im Musiktheater: Musical FUN HOME

Gelungenes Coming-of-Age- und Coming-out-Musical

23.04.2023 | Operette/Musical
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Die Kinder der Familie von Brcue und Helen Bechdel. Alle Fotos: Landestheater Linz / Reinhard Winkler

LINZ / Black Box: Musical FUN HOME deutschsprachige Erstaufführung

22. April 2023 (Premiere 14. 4.2023)

Von Manfred A. Schmid

Wieder einmal hat Linz die Nase vorn: Das mit fünf Tony Awards ausgezeichnete Coming-Of-Age- und Coming-Out-Musical Fun Home ist in der Black Box im Musiktheater der Landesbühne Linz als deutschsprachige Erstaufführung zu erleben. Das Stück basiert auf der gleichnamigen Graphic Novel der amerikanischen Karikaturistin Alison Bechdel, die in dem Bestseller ihre dysfunktionale Kindheit aufgearbeitet hat. Die Umsetzung der autobiographischen Vorlage in ein Musical hatte fünf Jahre gedauert und sich gelohnt: Mit Lisa Kron (Text) und Jeanine Tesori (Musik) wurde bei der Uraufführung am Broadway 2015 das erste weibliche Autorenteam mit dem Preis für das beste Musical geehrt.

Fun Home war auch das erste Broadway-Musical mit einer lesbischen Hauptrolle. Alison, eine 43-jährige Karikaturistin, spürt darin ihrer Kindheit und ihrem Erwachsen-Werden in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach und versucht das komplexe Verhältnis zu ihrem Vater zu ergründen, mit dem sie, wie sie nach und nach herausfindet, mehr verbindet, als sie zunächst angenommen hat. Alison will ihre Erinnerungen in einer Graphic Novel zu Papier bringen, d.h. in Worte fassen und zeichnen. Während vor ihren Augen Szenen aus früheren Phasen ihres Lebens nachgestellt werden, beobachtet und registriert Alison, von ihrem Platz hinter ihrem Zeichenpult aus, das Geschehen auf drei wichtigen Schauplätzen ihres Lebens. Immer wieder blickt sie dabei der kleinen, etwa 9- bis 10-jährigen Alison auf der verzierten Couch in ihrem Elternhaus über die Schulter. Ihr Blick richtet sich aber auch auf das Zimmer der an einem College studierenden, schon etwas älteren, rund 19 Jahre alten Alison, die nach dem Verlassen des Elternhauses herausfindet, das sie lesbisch ist und nach anfänglichem Sträuben das auch akzeptiert und leben will.

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Helena Gruber (Kleine Alison) und Karsten Kenzel (Bruce Bechdel)

Wichtige Quellen bei ihren Erkundungen sind die Tagebücher, die von der kleinen und mittleren Alison geführt werden. Im Mittelpunkt all dieser Rück- und Einblicke steht aber die Beziehung Alisons zu ihrem Vater Bruce. Dieser, ein kunstsinniger, charmanter Mann, ist Lehrer an einer High School, umgibt sich in seinem Haus mit Antiquitäten – „Seid willkommen im Museum in der Maple Avenue!“ – und restauriert in der Freizeit am liebsten alte Häuser und Möbel. Im Nebenberuf leitet er zudem noch das ererbte Bestattungsunternehmen im Ort. Daher stammt auch der Name des Musicals. Denn dessen Räumlichkeiten sind der liebste Spielplatz seiner Kinder, wobei Alison und ihre beiden Brüder auch in Särge klettern und einmal einen Werbespot für das Bestattungsunternehmen – auf Englisch „Funeral Home“ und von ihnen auf „Fun Home“ verkürzt ausdenken und ausprobieren. Als sich Alison in einem Brief an die Eltern als Lesbierin outet, erfährt sie in einem Telefonat mit ihrer Mutter, dass ihr Vater schon seit Jahren Affären mit Männern hatte. Bald darauf, nach einem Besuch bei ihren Eltern, bei dem sie von ihrer Partnerin Joan begleitet wird, und einer letzten gemeinsamen Autofahrt mit ihrem Vater, begeht dieser Selbstmord, indem er sich vor einen Lastwagen wirft. Alison erkennt Gemeinsamkeiten, vor allem aber wird ihr bewusst, dass die gesellschaftlichen und strafrechtlichen Bestimmungen, unter denen er leiden musste und die ihn zu seinen heimlichen Treffen und dem Verschweigen und Verbergen seiner sexuellen Orientierung gezwungenen hatten, sich für sie längst vorteilhaft verändert hatten. Nachdem sie ihre Vergangenheit nochmals durchlebt hat, wendet Alison im Schlusslied „Fliege davon“ – ihren Blick und ihre Erwartungen endlich wieder nach vorne.

Durch die wechselnden Konstellationen auf der Bühne und die Verschränkung verschiedener Zeitebenen – ausgezeichnet die zentrale Drehbühne von Karl Fehringer & Judith Leikauf – läuft das Geschehen aber nicht nur vor den Augen der erwachsenen Alison ab, die sich am Rande aber auch einmischt und vor allem bestrebt ist, das, was vor ihren Augen abläuft, zu kommentieren und in ihrer Graphic Novel einzuordnen, indem sie nach den jeweils dazu passenden „Textblasen“ sucht. Auch das Publikum wird in seinen Bann gezogen. Das derzeit auf dem Schauspielsektor so bestimmende immersives Theater hat also auch hier Einzug gehalten. Die Zuschauer werden gleichsam zu Zeugen dieser unglaublichen Geschichte und als Begleiter auf Alisons emotionale Reise durch verschiedene Stationen ihres Lebens mitgenommen. Die Black Box im Linzer Musiktheater ist ein idealer Platz dafür, da sie die Zuschauer sehr nahe ans Geschehen heranrückt.

Der packenden Inszenierung von Nicole Claudia Weber gelingt es, die herzzerreißenden Szenen spannend und auch unterhaltsam auf die Bühne zu bringen. Sanne Mieloo ist eine ideale Besetzung für die auf ihr bisheriges Leben zurückblickende erwachsene Alison. Stets präsent, zunächst meist im Hintergrund, sich im weiteren Verlauf aber immer auch mehr einmischend und am Schluss stehen alle drei Alisons gemeinsam auf der sich dann bereits fast pausenlos drehenden Bühne. Es ist faszinierend zuzusehen, wie sie auf die jeweiligen Episoden aus ihrer Kindheit und späteren Entwicklung emotional reagiert, sie zum Teil auch umdeutet und neu interpretiert. Das eröffnet eine breite Palette von Stimmungen.

Die Rolle der Mittleren Alison ist Celina dos Santos anvertraut und bei ihr in besten Händen. Es ist ein Vergnügen zu verfolgen, wie sie ihre Sexualität entdeckt, sich mit ihrer sexuellen Orientierung auseinandersetzt und wie sie damit umgeht: Trotz anfänglichen Frusts gelingt ihr das ohne Peinlichkeiten und ohne sich lächerlich zu machen. Und deshalb darf dabei auch viel gelacht werden, ganz im Sinne der Autorinnen.  Ihr Song „Mein Hauptfach ab heute ist Joan“ ist eine tolle Komposition zu einem gelungenen Text und wird von Dos Santos in einer Mischung aus Leidenschaft und Humor dargeboten. Alison wir immer selbstbewusster und sicherer, der anfängliche Frust ist bald überwunden. Vor allem aber kann sie über sich selbst lachen.

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Esemblefoto der Familie Bechdel, in der Mitte Karsten Kenze als Vater Bruce.

Helena Unger spielt die junge Alison. Ihr Song „Schlüsselbund“ ist eine zentrale Stelle im Musical. Die kleine Alison, die lieber Bubenkleidung und kurze Haare tragen würde, was ihr der besorgte Vater verbietet, identifiziert sich bei einer Zufallsbegegnung unbewusst mit einer als „Butch-Lesbe“ daherkommenden Paketbotin.  

Den Vater, Bruce Bechdel, spielt Karsten Kenzel. Kenzels Bruce ist eine faszinierende Figur, ein jovialer, liebender, wenn auch stest unter seiner Kontrolle haben wollender Familienvater, der ein Geheimnis in sich trägt und daran letztendlich zerbricht. Kenzel spielt und singt fantastisch, sein letzter Auftritt mit „Die Grenzen meiner Welt“ erschüttert und geht unter die Haut.

Daniela Dett ist Bruces betrogene und missbrauchte Gattin, die lange gute Miene zum bösen Spiel macht und den Kindern, gemeinsam mit ihrem Mann, eine heile Welt vorspiel und sich zum Wohle ihrer Kinder aufopfert, bis sie es nicht mehr aushält und ihrem Frust und ihren Enttäuschungen in ihrem Lied „Tag um Tag“ Ausdruck verleiht. Sie berührt ungemein, wie sie bestrebt ist, dem amerikanischen Ideal einer perfekten Mutter, Künstlerin – sie spielt Klavier und Theater – und Ehefrau zu entsprechen.

Benjamin Kirschläger und Gabriel Federspieler entzücken als Alisons Brüder Christian und John. Beeindruckend gestalten sie mit ihrer jüngeren Schwester Alison das Lied „Come to the Fun Home“, ihren von ihnen selbst entwickelten Werbe-Jingle für das Bestattungsunternehmen ihres Vaters.

Eine wichtige Rolle ist Joan, Alisons erste lesbische Partnerin, die mit ihrer unprätentiösen, fröhlichen und dennoch charismatischen Art das Bekenntnis zu ihrer sexuellen Orientierung erleichtert. Bettina Schurak ist eine glänzende Joan. Selbsbewusst, dynamisch und ungezwungen und keinesfalls missionarisch tätig, sorgt sie für Heiterkeit und entspannende Akzente in immer komplexer werdenden Zuspitzungen. Die Chemie zwischen Celina dos Santos und Bettina Schurak könnte nicht besser sein,

Christian Fröhlich spielt die von Bruce umworbenen jungen Männer. Toll seine Interpretation des Songs über den Regenmantel der Liebe, der von Hannah Moana Paul perfekt choreografiert ist. Für passende, unspektakuläre Kostüme, die den 70-er Jahrem entsprechen, sorgen Julia Klug & Nina Holzapfel.

Die musikalische Leitung hat Juheon Han inne,der auch am Keyboard tätig ist. Das siebenköpfige Ensemble Six Feet Under besteht weiters aus dem Gitarristen Bruno Bründlinger, Malva Hatibi Krainz am Cello, Charly Schmid an den Reeds, Christian Wirth an der Violine, Ewald Zach, Drums und Gerald Kiesewetter, Bass.

Ein ausverkauftes Haus und stehender Beifall bestätigen erneut den hohen Rang der Musical-Sparte des Landestheaters Linz und ihre avantgardistische Programmgestaltung am Puls der Zeit. Hinfahren. Anschauen. Zuhören. Nachdenken. Und Weitersagen!

 

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