Europakonzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko via ARD in der Great-Amber-Konzerthalle am 1. 5. 2022/LIEPAJA
Geballte Wucht und Feuer
Ursprünglich sollte das diesjährige Europakonzert der Berliner Philharmoniker in Odessa stattfinden, doch aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde es nun im lettischen Liepaja veranstaltet. Vom gegewärtig wohl berühmtesten Komponisten Lettlands Peteris Vasks erklang zunächst die „Musica dolorosa“, die nach dem Tod von Vasks Schwester Marta entstand. Dieses eindrucksvolle Werk wird von den Klängen des Streichorchesters dominiert, deren dynamische Bandbreite immer wieder verblüfft. Neben Ostinato- und Unisono-Momenten sind Pizzicato- und Vibrato-Passagen herauszuhören. Und auch die Cluster-Sequenzen interpretierte Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern höchst facettenreich.
Der 1937 in Kiew geborene Valentin Silvestrov gilt als der bedeutendste Komponist der Ukraine, er kam am 8. März in Berlin an, nachdem er aus seiner Heimat geflohen war. Auch seine „Elegie für Streichorchester“ besitzt eine ganz eigentümliche Tonsprache. Der kraftvolle Fortissimo-Akkord wird teilweise gestrichen und gezupft. Herausragend ist vor allem die melodische Entwicklung, deren Ausdruckszauber das Publikum auch in der Konzerthalle in Liepaja fesselte. Das „Erstarren der Zeit“ soll hier laut Silvestrov beschrieben werden. So erklang dieses Werk sphärenhaft und endete in unendlicher Stille.
Elina Garanca (Mezzosopran) war die gesanglich berührende lettische Solistin bei den „Folk Songs“ von Luciano Berio, deren archaisierender Klagegesang die Zuhörer beeindruckte. Aber auch Trällern und Belcanto-Passagen überzeugten dabei die Zuhörer. Swingender Gospel sowie Virelai-Momente aus dem französischen Mittelalter zeigten immer wieder die ganze Bandbreite dieser abwechslungsreichen Komposition. Selbst dodekaphonische Momente waren versteckt herauszuhören. Elina Garanca legte auf die melodische Gestaltung in Intervallsprüngen und gesanglich tragfähigen Kantilenen großen Wert. So kam es zu einer fortwährenden akustischen Verwandlung in der kühnen formalen Konzeption. Flirrende und tremolierende Momente korrespondierten reizvoll mit Pizzicato-Effekten. Diese Liedersammlung schrieb Berio 1964 für seine damalige Frau Cathy Berberian und erweiterte sie 1973 zur Fassung für Gesang und orchestrale Begleitung mit solistischen Bläsern, Harfe, Schlagzeug und Streichern. So spiegelte sich die klangliche Welt Italiens, Armeniens oder Aserbaidschans ausdrucksvoll wider bei dieser ausgefeilten Interpretation.
Ein Höhepunkt war dann die symphonische Rhapsodie „Taras Bulba“ von Leos Janacek. Hier steht der ukrainische Kosakenhäuptling Taras Bulba im Mittelpunkt, der im Jahre 1628 im Kampf gegen die Polen den Heldentod fand. Im ersten Bild „Andrejs Tod“ wird das Schicksal Andrejs geschildert, der aus Liebe zu einer Polin ins feindliche Lage übergetreten ist und von seinem Vater Taras Bulba mit eigener Hand getötet wird.
Die Berliner Philharmoniker musizierten hier unter der Leitung von Kirill Petrenko mit glühender Leidenschaft. Wie aus vergessener Ferne hob dieser Satz mit dem Rezitativ des Englischhorns an – und die Figuren traten immer deutlicher hervor. Die zweite Szene „Ostapows Tod“ zeigt Taras Bulba auf einem Fest in Warschau, wo er die Hinrichtung seines zweiten Sohnes mitansehen muss. Eine große dynamische Steigerung gab es dann nochmals beim dritten Bild „Prophezeiung und Tod des Taras Bulba“. Klänge von majestätischer Weihe und ernste, schwere Akkorde begleiteten diesen letzten Satz, dessen stürmisch-kriegerische Emphase von Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern bestens erfasst wurde. Zum Abschluss begeisterte die atemlos-enthusiastische Wiedergabe der Tondichtung „Finlandia“ op. 26 von Jean Sibelius, der auch als „Tschaikowsky des Nordens“ bezeichnet wurde. Dieses Werk demonstriert die Freiheitsliebe der glücklichen Finnen, die schließlich von der russischen Übermacht erlöst wurden. Der begeisterte Patriotismus dieses Werkes kam nicht zu kurz. Feierliche Fanfaren wechselten sich mit schwermütigen Klängen in Holzbläsern und Streichern ab. Die Schönheit der heimatlichen Seen wurde sehr poetisch beschrieben – und auch den festlich-freudigen Marschklängen zollten die Berliner Philharmoniker unter Petrenko ihren Tribut. Das Nebenthema fesselte mit volksliedartigem, zurückhaltendem Charakter. Glorreiche Vergangenheit und siegreiche Zukunft triumphierten schließlich in einer überwältigenden Schlussapotheose. Dank Petrenkos präzisem Dirigat konnte man der architektonischen Gliederung dieser großen Form gut folgen, obwohl die Thematik in ihren fließenden Übergängen keine schärferen Kontraste aufstellt. Großer Jubel für dieses Konzert unter dem Motto „Stimmen der Unabhängigkeit“.
Alexander Walther