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LEIPZIG/Thomaskirche: „MATTHÄUSPASSION“ VON J. S. BACH BEIM LEIPZIGER THOMANERCHOR

15.04.2022 | Konzert/Liederabende

„MATTHÄUSPASSION“ VON J. S. BACH BEIM LEIPZIGER THOMANERCHOR – 14.4.2022

Die Botschaft des neuen Thomaskantors Andreas Reize, der seit September 2021 im Amt auf diesem traditionsreichen Kantorenposten ist und heuer nun erstmals seine Sicht auf die traditionelle Passions-Interpretation der Bachschen Oratorien an Ostern in Leipzig auf der Empore der altehrwürdigen Thomaskirchen-Empore präsentieren durfte (das groß angelegte Weihnachtsoratorium im Dezember fiel dem sächsischen Regionslockdown zum Opfer), war mehr als deutlich und klar – sein Bach wird anders, frischer, auch fröhlicher (leicht katholischer eben) und vor allem schneller. Mit 2 Stunden 30 Minuten reiner Aufführungsdauer dürfte der neue Thomaskantor schon mal einen Rekord erzielt haben. 

Das kann für den Anfang als „to much“ gelten, aber wenn diese Musizierweise so (fast) souverän umgesetzt wird, wie bereits am Gründonnerstag, dann darf man Herrn Reize dazu gratulieren. Sicher mag dieser Weg einigen, welche Bachs Werke vornehmlich als Demutsmusik begreifen, nicht gefallen, aber nach unzähligen Jahren der sachlichen Interpretation, ist dieser neue Weg endlich an der Zeit, ohne die von jeher überflüssige Diskussion über die historische Aufführungspraxis wieder aufleben zu lassen, denn diese hat nicht viel gebracht. 

Bei Bach geht es darum, was gesagt und ausgedrückt werden soll. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Am Gründonnerstag ließ bereits der Eingangschor erkennen, mit welcher Verve man in den nächsten 165 Minuten rechnen konnte, wenngleich im Cantus firmus die Soprane noch nicht ganz sicher klangen. Fast zur Doppeldeutung erschien z.B. das schnelle Tempo und der tänzerische Ton der Altarie „Buß‘ und Reu …“. Auffällig und interessant waren auch die vielen Choral-Abschlüsse im schwingungslosen und raketenschnell angezogenen Crescendo, welche alle Beteiligten de facto mit Selbstinteresse und Souveränität umsetzten. 

Die künstlichen Pausen der Bass-Arie „Gebt mir meinen Jesu wieder“ überzeugten den Rezensenten allerdings nicht. Fast vollkommen überzeugten die Solisten des Abends. Makellos sangen die versierte Sopranistin Regula Mühlemann und die schönstimmige AltistinAnna Lucia Richter. Mit zurückhaltender Stimme sang Wolfram Lattke die Tenorarien. Der kroatische Bass Krešimir Stražanac steigerte sich im Lauf des Abends in den Bassarien und später als Pilatus. Michael Nagy, von jeher ein lyrischer Bariton mit Ausflügen ins dramatische Fach, war ein charakterstarker Jesus mit leicht begrenzter Tiefe. 

Nach der kurzfristigen Absage des Leipziger Evangelisten Patrick Grahl konnte in letzter Minute David Fischer von der Rheinoper in Düsseldorf-Duisburg eingeflogen werden. Diese Leistung kann man nur als nahezu spektakulär bezeichnen. Mit dieser schönen und technisch völlig intakten Tenorstimme kann sich dieser junge Sänger erlauben, fast komplett die epische Partie des Evangelisten mit Bruststimme schön (!) zu singen. Das mag einigen Hören als zu opernhaft gelten, ist aber, wenn es so funktioniert wie bei David Fischer, eine wichtige und lohnenswerte Abwechslung. Gestalterisch blieb der Tenor dieser oft überinterpretierten Erzählerfigur nichts schuldig. „Bravo“ und bitte wieder in Leipzig! 

Der Thomanerchor sang gut, hatte aber schon bessere Jahrgänge. Er verweigerte sich nicht den Intentionen des neuen Thomaskantors und meisterte den Abend nach der längeren Corona-Pause mit Zuverlässigkeit. Das Gewandhausorchester schien mit Freunde und Spiellust Reizes neue Tempo- und Interpretationsvorstellungen anzunehmen, wie es an der genialen Leistung der Musiker zu hören war. Es war ein interessanter und spannender Oratorienabend am Gründonnerstag in der Thomaskirche, welcher Lust auf zukünftige Bachabende in Leipzig gemacht hat. 

Rico Förster

 

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