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LEIPZIG/ Thomaskirche: „JOHANNESPASSION“ VON J. S. BACH MIT DEM THOMANERCHOR IN DER ORIGINALFASSUNG

30.03.2024 | Konzert/Liederabende

Leipzig / Thomaskirche: „JOHANNESPASSION“ VON J. S. BACH MIT DEM THOMANERCHOR IN DER ORIGINALFASSUNG – 28.3.2024

Die bisherige Aufführungspraxis, die „Johannes-“ oder „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach mit dem Thomanerchor zu Ostern zweimal in der Thomaskirche aufzuführen, wurde dieses Jahr unterbrochen und die Johannespassion – wie zu Bachs Zeiten, einmal in der Thomaskirche (Gründonnerstag) und einmal in der Nikolaikirche (Karfreitag) aufgeführt (in der Thomaskirche gab es am Karfreitag die „Matthäuspassion“ mit dem Bach-Chor). Anlass war die Uraufführung der „Johannespassion von und mit Bach vor genau 300 Jahren in der Nikolaikirche am Karfreitag des Jahres 1724, eingebunden in den Gottesdienst.

Jetzt wird sie meist in Konzertform aufgeführt als eine „Mischung“ aus insgesamt fünf, fragmentarisch überlieferten, Fassungen, denn Bach bearbeitete und veränderte seine erste Passion mehrmals für die jeweilige Aufführung und vermutlich auch auf Anweisungen der Obrigkeit, wobei er mitunter auch Änderungen wieder zurücknahm. Thomaskantor Andreas Reize wählte für die diesjährige Aufführung die „Urfassung“ von 1724, für deren Reko,nstruktion er monatelange Arbeit auf sich genommen hatte.

Nicht „original“ dürfte der Einsatz eines Altus für die Altpartie sein. Es ist nicht bekannt, dass in Leipzig zu Bachs Zeiten Kastraten auftraten. Das gab es nur in der Residenzstadt Dresden und dort auch nur in der Oper und der Katholischen Hofkirche. Sachsen war evangelisch-lutherisch und Kastraten in den Kirchen verpönt, auch in Leipzig. Bach hätte ihnen vermutlich nie die Reflexionen und Empfindungen der zwischen Schmerz und erlösender Hoffnung zerrissenen Seele anvertraut.

Der polnische Altus Jakub Józef Orliński verfügt über eine für einen Altus ungewöhnlich schöne Stimme. Er orientierte naturgemäß auf die exakte gesangstechnische Ausführung der Altpartie, deren chromatische Läufe er sehr gut bewältigte. Er achtete auch auf die richtige Diktion, und doch fehlte die seelenvolle Wärme einer weiblichen Stimme, bei der die Bewältigung der technischen Seite von Natur aus leichter ist und sie sich dadurch mehr auf die Interpretation konzentrieren kann. Die Arie „Es ist vollbracht“ bewältigte er, wenn auch in der Höhe leicht forcierend, gesangstechnisch gut, den Text deklamierend, und ging spontan zu den Worten „Der Held aus Juda siegt mit Macht“ über. Nach den Worten „… und neigte das Haupt und verschied“ folgte eine Pause, die die Situation in Gedanken plastisch hervorhob, wie es auch bei der Uraufführung gewesen sein könnte.

Die vielseitige Sopranistin Elisabeth Breuer, die sich neben der Oper auch als Konzertsängerin der Musik des Barock und der Wiener Klassik sowie dem Liedgesang widmet, überzeugte mit klarer Stimme und stilgerechter Gestaltung bei der Arie „Ich folge dir gleichfalls“ mit ihren chromatischen Läufen und der lyrisch betrachtenden Sopran-Arie gegen Ende der Passion „Zerfließe mein Herze“.

Die Gestalt des Christus wurde von Benjamin Appl sehr verhalten geboten, weder als irdisch-menschliche Persönlichkeit, noch überirdisch verklärt. Er sang relativ leise und etwas farblos.

iIm Gegensatz dazu erschien der tschechische Bariton Tomáš Král in der Rolle des ihn verhörenden Pilatus mit wohl durchdenkenden Worten als stimmstarke Persönlichkeit. Er sang auch die Arien mit kräftiger Stimme, wenn auch weniger transparent.

 Die umfangreichste Partie hatte Daniel Johannsen zu bewältigen. Wie ein roter Faden zieht sich die Rolle des Evangelisten durch die Passion, Erzähler, Berichterstatter und auch Kommentierender in einer Person, die er mit seiner großen Erfahrung auf diesem Gebiet nicht nur problemlos und mit guter Textverständlichkeit sehr abwechslungsreich und mitunter lautmalerisch gestaltete, ohne zu übertreiben. Er war ein interessanter, spannender Erzähler und spannte nahtlos den Bogen zu den nachfolgenden Worten, Rezitativen, Arien, Chören und Chorälen. Seine Vielseitigkeit kam auch den Arien zugute, bei denen sich seine Stimme erst recht entfalten konnte, obwohl sie viel Kondition erfordern. Er sang sie mit scheinbarer Mühelosigkeit und viel Engagement und gestaltete sie entsprechend ihres jeweiligen sehr unterschiedlichen Charakters mal dramatisch, mal lyrisch-gefühlvoll und beseelt und erfüllte sie mit Leben.

Die Nebenrollen waren, entsprechend einer Tradition, die auch an die ursprüngliche Praxis zu Bachs Zeiten erinnert, mit jungen Stimmen des Thomanerchores besetzt, womit manches Talent früh gefördert werden kann. Während der kleine Sänger der Magd mit klarer, schon recht kräftiger Stimme auf sich aufmerksam machte, blieben die anderen sehr erhalten. Die Stimmen waren noch nicht tragfähig genug für den großen Kirchenraum. Die Aufführung fand wie immer von der großen Chorempore aus statt. Platz ist dort genug für alle Ausführenden, nur die Akustik ist gewöhnungsbedürftig, vor allem im Kirchenschiff.

Der Thomanerchor steigerte sich von anfänglich kleinen Unstimmigkeiten, kleinen „Startproblemen“, wie sie bei der ersten Aufführung auftreten können, im Verlauf der Aufführung zu ausgeglichener Wiedergabe der emotional betrachtenden Choräle bis hin zu sanften und hochdramatischen Chören wie „Nicht diesen, sondern Barrabam!“ in guter Diktion.

Die Mitglieder des Gewandhausorchesters begleiteten die Aufführung mit ausgewogenem Klang und Stilempfinden und die Sängerin und Sänger mit schöner solistischer Begleitung der Arien

Mit sanftem, feinsinnigem Orgelklang begleitete außerdem Thomasorganist Johannes Lang die Aufführung kontinuierlich und sehr eindrucksvoll. Neu war die sanfte, einfühlsame Orgelbegleitung zwischen den beiden Strophen des zweistrophischen Choräls „Wer hat dich so geschlagen“.

Andreas Reize hatte allgemein ein gutes Tempo gewählt, spannungsreich, aber nicht zu schnell und an exponierten Stellen, dem Text entsprechend, sinnreiche Pausen zur Verinnerlichung eingefügt.

Bachs dramatische Passion, die gerade wegen dieser Lebhaftigkeit und Dramatik bei der Uraufführung zwiespältig aufgenommen wurde, gilt jetzt als eines der besten Chorwerke der Kirchenmusik und berührt trotz ihres Alters immer wieder von Neuem, auch den modernen Menschen.

 

Ingrid Gerk

 

 

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