LEIPZIG/WAGNER 22: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER am 25. Juni 2022
Imposantes Holländer-Schiff…
Daland mit den toten Pottwalen, die wie Holländer vom Meer an land gespuckt wurden. Foto: Tom Schulze
Nach den drei Frühwerken ging beim Marathon WAGNER 22 in Leipzig am 24. Juni der Bayreuther Kanon los mit dem ersten Werk, welches Wagner dafür auserwählt hatte, dem „Fliegenden Holländer“. Die Inszenierung des niederländischen Regisseurs Michiel Dijkema, auch für das Bühnenbild verantwortlich, der damit wohl seine erste Wagner-Oper vorlegte, hatte ihre Premiere an der Oper Leipzig Ende März 2019. Sie setzte sich vielen Beobachtern im Gedächtnis fest wegen eines ungewöhnlich großen Holländer-Schiffes, ganz im Gegensatz zu den aktuellen, bisweilen völlig von jeglicher Schiffs-Phantasie abstrahierenden Inszenierungen, insbesondere solchen des Regietheater-Stils. Man merkte schon im Vorspiel, dass es Dijkema vor allem um das Geheimnisvolle und Unheimliche an dem Stück geht, wie es schon Wagner selbst fesselte und ihn zur Komposition motivierte. Man denke nur an seine dreieinhalbwöchige Flucht aus dem damals ostpreußischen Hafen Pillau, heute Baltijsk, mit dem Seelenverkäufer Thetis, der im Sturm fast untergegangen wäre, über das Skagerrak bis nach London. Die Fahrt hatte ihn in seiner Ansicht bestärkt, diesen Stoff in eine Oper zu fassen. Er hatte ihn allerdings schon früher in Heinrich Heines Romanfragment „Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski“ kennengelernt.
Daland mit den „Schätzen“ des Holländers. Foto: Tom Schulze
Und genau hier setzt Dijkema mit seinem Regiekonzept, einem durchaus interessanten und dramaturgisch gut durchdachten, an. Senta stellt sich den Holländer eigentlich nur selbst vor, aber plötzlich beginnt er real zu existieren. Insofern repräsentiert sie auch unsere eigene Phantasie. Und wie sie den Spinnerinnen in der Ballade von der Geschichte des Holländers erzählt, wird die Oper auch eine Geschichte über das Erzählen von Geschichten, wie Dramaturgin Elisabeth Kühne im Gespräch mit dem Regisseur im Programmheft feststellt. Herr von Schnabelewopski berichtet aber auch von einem Besuch der Fabel vom „Fliegenden Holländer“ in einem Theater in Amsterdam. Und zwar wirft ihm dort eines schöne Blondine Orangenschalen auf den Kopf, was zu einer kurzen amourösen Unterbrechung – ohne weitere Erläuterungen – der Vorstellung für beide führt. Erst zur Schlussszene kommt von Schnabelewopski wieder in die Aufführung.
Die Naturgewalten der stürmischen Überfahrt und dieses amouröse, möglicherweise auch nur platonische Zwischenspiel mit der Blondine will Dijkema in seiner Regie miteinander verbinden. Und man kann sagen, es ist ihm gelungen, auch wenn dazu ein Blick ins Programmheft zuvor hilfreich ist, aber immer wieder auch Text aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski auf segelartigen, an Rahen hängenden Transparenten angeboten werden. So kann man das Geschehen in wesentlichen Etappen mitlesen, und es ist, auch schon aufgrund der veralteten Schreibweise des 19. Jahrhunderts, bisweilen recht amüsant. Gender-Apologetinnen hätten sicher ihre Freude an einer Formulierung für Senta wie „Frau fliegende Holländerinn“, mit zwei „n“ im Singular! Da es auf der Bühne immer viele Seilzüge für die Bewegung von Prospekten gibt, hat Dijkema diese kurzerhand mit den Tauen eines Segelschiffs assoziiert und lässt die Bewegung durch die Naturgewalten in schwebenden Rahen mit Segeln in mehreren gegeneinander versetzten Lagen zeigen. So kam er auch auf historische Zeichnungen und Kupferstiche von toten Walen, die vom Meer an den Strand gespült wurden, ausgespuckt von der Naturgewalt Meer wie der Holländer alles sieben Jahre. Man sieht auch mal einen wilden Meeresstrudel und als Hinweis auf die Geschichte im Amsterdamer Opernhaus auch immer wieder einen Blick in ein voll besetztes Opernhaus aus jener Zeit. So verbindet Dijkema beide so gegensätzlichen Aspekte auf überzeugende Art und Weise.
Statt des Holländer-Schiffes kommen also auf der riesigen Leipziger Drehbühne erstmal ein paar ebenso riesige tote Pottwale angeschwemmt, zwischen denen der Holländer langsam hervortritt. Daland wird ganz traditionell sofort mit allerlei Klunkern überhäuft. Jula Reindell hat die Kostüme des Holländer und seiner Besatzung aus der Zeit fallen lassen, während Daland und Erik überaus bieder gekleidet aus der Entstehungszeit der Oper um 1840 daherkommen, ja Erik mit seiner stets wechselnden Jagdbeute regelrecht „verdeppt“ gezeigt wird, wohl um die Distanz zum Geheimnisvollen des Holländers noch größer werden zu lassen. Einzig Senta, die große Innovatorin des Ganzen, erschient in etwas modernerem Design.
Senta, Daland und der Holländer (andere Besetzung: Ich erkenne Christiane Libor und Iain Paterson). Foto: Tom Schulze
Der Regisseur wollte in Leipzig die drei Akte mit ihren Schlüssen zeigen, was man selten zu sehen und hören bekommt, zumal der „Fliegende Holländer“ in der Regel ja durchgespielt wird. Hier gibt es also eine Lichtpause zwischen dem 1. und 2. Akt und eine große Pause nach dem 2. Akt. Es war ungewöhnlich, aber interessant, einmal die Musik der Aktschlüsse zu hören. Man wollte damit auch andeuten, dass beim „Fliegenden Holländer“ noch die Nummernstruktur der italienischen Oper musikalisch durchscheint und Vorbilder wie Weber, Marschner oder Spohr anklingen.
Der große Knalleffekt kommt aber tatsächlich, nachdem die – wenig effektvoll – im Bühnenvordergrund schlafenden Holländer-Matrosen von den immer wilder feiernden Norwegern geweckt werden, langsam nach hinten gehen und das riesige Schiff mit den blutroten Segeln in Bewegung setzen, bis es sich über den ganzen Orchestergraben und über das erste Drittel des Parketts geschoben hat – eine bühnenbildtechnische Meisterleistung und absolut spektakulär. Hier erreichen das Geheimnisvolle und Unheimliche der Aufführung ihren wahren Höhepunkt. Wenn man anschließend überrascht ist, dass der Holländer schon mit Senta im Bett liegt – freilich in voller Montur – während Erik mit ihr über seine letzte Chance verhandelt, ist vielleicht zunächst überrascht. Man würde ja erwarten, dass der Ahasver erst im Finale in den Dialog der beiden hineinplatzt und die Reissleine zieht. Aber da sind wir wieder bei der Blondine und dem Herrn von Schnabelewopski bei ihrem kleinen amourösen Abenteuer, das die Blondine, hier also Senta selbst, mit ihm während der Oper gehabt haben könnte. Auf diese Idee muss man erstmal kommen! Aber sie stimmte perfekt.
Spinnstube. Foto: Tom Schulze
Nur im 2. Akt stimmte einiges nicht. Denn wenn man schon so detailliert eine halbindustrielle Spinnerei darstellt, sollte man wissen, dass Seide aus den Kokons der Seidenraupe nicht durch deren Zerbrechen wie reife Kokosnüsse gewonnen wird, sondern durch ein rotierendes Fadenspinnen aus den auf einer Wasseroberfläche treibenden Kokons. Außerdem sind die Fäden in Leipzig nicht mit der Anlage verbunden, sodass diese sich oft grundlos dreht…
Imponierendes Holländer-Schiff. Foto: Tom Schulze
Der eindeutige Star des Abends war Elisabet Strid mit einer bilderbuchartigen Interpretation der Senta. Strid hat nicht nur einen Sopran, der völlig problemlos bei einer äußerst tragfähigen und schön timbrierten Mittellage höchste Spitzentöne singen kann, wie bei der Ballade und im Finale. Sie dürfte nun d i e Senta unserer Tage sein. Thomas J. Mayer gab einen Respekt gebietenden Holländer, der die ganze Verzweiflung und Anstrengungen der Jahrhunderte, die er schon unterwegs ist, eindrucksvoll in seiner Person vereinigte. Sein Bariton ist kraftvoll und ebenfalls höhensicher, wirkte an diesem Abend aber etwas zu oft forciert und verlor damit bisweilen an Klangschönheit. Dem Bass von Randall Jakobsh in der Rolle des Daland fehlt es an Wärme und Klangschönheit. Er überzeugte aber darstellerisch. Vincent Wolfsteiner als Erik bringt durchaus die heldentenoralen Qualitäten mit, die Wagner dieser Rolle zugeschrieben hat, könnte aber etwas mehr Resonanz haben. Karin Lovelius war eine gute und respektgebietende Mary. Sven Hjörleifsson als Steuermann beeindruckte mit einem gut geführten lyrisch betonten Tenor und Agilität unter den norwegischen Seeleuten. Wieder faszinierte der in der Tat sehr gute und wie immer von Thomas Eitler-de Lint einstudierte Chor und Zusatzchor der Oper Leipzig, die im Sturm gleich zu Beginn ihre aufregenden bühnentechnischen Möglichkeiten zur Schau stellte mit einem sich innerhalb der Drehbühne gegensätzlich drehenden Norwegerschiff.
GMD Ulf Schirmer stand diesmal am Pult des Gewandhausorchesters, und es stellte sich schnell der Eindruck ein, dass nun mit mehr Detailfreude und Nuancenreichtum musiziert wurde. Schirmer legte meist dynamische Tempi vor, wie es weitgehend zu diesem Stück und eben auch zu dieser Inszenierung passte. Und er kontrollierte die Lautstärke. So entstand eine musikalische Darbietung aus einem Guss.
Am Schluss steigt Senta (als Double) hoch in die Rahen. Ein Schatten dokumentiert ihren Todessturz. Der Holländer steht noch einen Moment reglos da und fällt dann im Kostümstaub zusammen. Er ist erlöst! Ein toller Trick, eigentlich gar nicht so schwer, aber man muss auf ihn kommen. Und Phantasie haben Dijkema and sein Team mit dem Lichtdesigner Michael Fischer in dieser Produktion vielfach an den Tag gelebt.
Klaus Billand