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LEIPZIG / Oper „DER FREISCHÜTZ“ – Psychologisch raffinierte Horrorinszenierung

07.05.2023 | Oper international

LEIPZIG / Oper „DER FREISCHÜTZ“ – Psychologisch raffinierte Horrorinszenierung; 6.5.2023

Gewandhausorchester und -chor mit exquisit romantischen Klängen in einer gediegenen Repertoireaufführung

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Foto: Ida Zenna

Premiere der stückgerechten, bildgewaltigen Inszenierung von Christian von Götz war 2017. In der Wiederaufnahme ab April 2023 funktioniert die Produktion dank einer geschlossenen Ensembleleistung wie am ersten Tag. Ein Grund für einen Leipzig-Besuch, meine ich.

Zumal es der Regisseur versteht, diese so kitschgefährdete wie doppelbödige, naiv zwischen Glauben und mittelalterlichem Aberglauben oszillierende Oper mit einer allgemeingültigen Parabel über die Angst vor dem Bösen, die Zwänge männerbündlerischer Selbstgerechtigkeit und genau dadurch das Hineinsacken in dämonische Abgründe optisch wie gruppendynamisch psychologisch glaubhaft zu zeigen.

Dabei ginge es ja von Beginn an einfacher, wenn der Eremit seine mahnende Ansprache nicht am Ende, sondern zu Beginn der Oper mit der einzig vernünftigen gesellschaftlichen Forderung gegen diesen aberwitzigen Hokuspokus gehalten hätte: Schafft einfach den Probeschuss ab. Dann bliebe aber noch immer eine Frau zwischen zwei befreundeten Männern: Agathe, die von Kaspar sicherlich mehr fasziniert ist als von Max, diese Fantasie aber nicht leben darf….

Eine Drehbühne zeigt szenisch rasch wechselnd zwei Räume: Eine bis tief in den Bühnenraum sich verjüngende Wirtshausstube mit Galerie sowie ein schmales, karges Schlafgemach der Agathe mit Bett und Kreuz. Als Samiel hat sich von Götz eine Figur erdacht, die nicht nur in der Wolfsschlucht paktierend geistert, sondern im ganzen Stück als teuflisches Memento mori anwesend ist. Verena Hierholzer als Netflix-TV-Serien-drastisches, vom Beelzebub besessenes junges Mädchen lässt keinen Zweifel, dass der Handel mit ihr für irgendwen irgendwann tödlich endet. Wie dumm zu glauben, dass der Mensch alles haben kann: die mit der Seele erkaufte Freikugel als Metapher für den erschwindelten Einstieg in gesellschaftliche Anerkennung und Rang sowie privates Glück.

Außer den grandiosen, die spießige Lüsternheit und Lügen der dörflichen Gemeinde inkarnierenden Bühnenbilder und Kostüme (Dieter Richter, Jessica Karge) ist es vor allem die im Vergleich zu anderen Produktionen gesteigerte Grausamkeit und der dramaturgische Sog, den von Götz von Anfang an im Blick hat.

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Foto: Ida Zenna

So gewinnt das Sternschießen nicht Max, sondern der junge Bauer Kilian (Jonas Böhm), der als Tell-Zugabe gleich der Kellnerin einen Bierkrug von Kopf schießen darf. Agathe (die höhensicher dramatische wie samtig betende Sarah Traubel) ist hier nicht nur die ängstliche, auf Max wartende Frau, sondern ein selbstbewusstes Mädchen, das sich mit Gewehren ebenso gut auskennt, wie sie sich am Ende konsequent vom vor Versagungsängsten aller Art elendiglichen Max abwendet. Das nach erfolgter Sühne angekündigte „Verzeihen“ der Missetat des Max durch den allmächtigen Fürsten Ottokar (markant Franz Xaver Schlecht) gilt ja nur als öffentliches Ritual, nicht aber in der Liebesbeziehung zwischen Max und Agathe. Denn der Regisseur hat verstanden, dass das mit Max und Agathe nach dem Probejahr nix mehr werden kann. Dafür nimmt der erboste, in seiner Männlichkeit abermals verstümmelte Max (Peter Sonn mit heldentenoralem Aufbegehren in einer zwingenden Charakterstudie eines feigen Opportunisten) gerne den Dolch von Samiel entgegen. Auch er wird sich auf einen böse endenden Kuhhandel mit dem Teufel einlassen.

Von der vokal guten, vor allem darstellerisch bis in die kleinste Rolle hervorragenden Besetzung stechen das glockenrein keck singende Ännchen der Samantha Gaul sowie der hollywoodreife Bösewicht Kaspar des stimmlich herb-düsteren Tuomas Pursio heraus. Als Eremit ist Sebastian Pilgrim und als Erbförster Kuno Karel Martin Ludvik zu hören.

Ereignishaft ist, auf welch hohem Niveau der Chor der Oper Leipzig (er ist einer der besten in Deutschland) und das in diesem (früh) romantischen Repertoire so ideale Gewandhausorchester (Hörner, Holz, Celli) die volkstümlich-deftige wie unheimlich-lauernde Atmosphäre der Oper kommunizieren können. Die Geschichte findet nicht nur im Text, sondern auch auf der Ebene der Instrumente und ihrer unverwechselbaren Klangfarben statt. Dirigent Lukas Beikircher, Chefdirigent des Tiroler Landestheaters Innsbruck, lässt den einzigartigen romantischen Sound des Luxusklangkörpers genüsslich und mit hoher erzählerischer Intensität fließen.

Am Ende viel Applaus im gerade von jüngeren Leuten auffällig gut besuchten Haus.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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