LEIPZIG: LA TRAVIATA
20.1. 2019 (Werner Häußner)
Andreas Homokis Inszenierung funktioniert nach fast einem Vierteljahrhundert nach wie vor, vor allem, wenn ein so spielfreudiges Ensemble wie an der Oper Leipzig das schwarzglänzende Koordinatensystem der Bühne von Frank Philipp Schlößmann mit einem spannungsreichen Beziehungsgeflecht ausfüllt. Und wenn ein Dirigent wie Enrico Calesso dafür sorgt, dass sich die Musiker des Gewandhausorchesters im Lauf des Abends immer mehr auf eine „Italianitá“ einlassen, die in Leipzig sonst manchmal ihre Bögen und ihre leidenschaftliche Sonorität nicht findet.
Calesso, GMD in Würzburg, garantiert in dieser erstaunlich gut besuchten Repertoirevorstellung von „La Traviata“ den Puls der Musik, der bei Verdi die Basis aller Dramatik bildet. Er hält die anfangs zögerlich phrasierenden Violinen an, die melodischen Bögen auszufüllen und ihre Spannung aufzubauen, ohne in die saftige Vordergründigkeit altitalienischer Kapellmeister zu verfallen. Dass dieser Dirigent auf genau ausgeformte Details achtet, wissen wir aus anderen Aufführungen. Hier in Leipzig stimmen die Pausen, die Accelerandi, die Phrasierungen, die den Möglichkeiten der Sänger angepassten, aber nicht verzerrten Tempi. Nur die Spielszene zwischen Douphol und Alfredo im zweiten Akt wirkt ein wenig hektisch – da fehlt dann das Drohende in der Musik. Ein akustisches Problem: Celli und Kontrabässe setzen sich zu wenig durch; ihre Akzente, ihr treibender Rhythmus, ihre atmosphärische Funktion waren nicht ausreichend belichtet.
Für „La Traviata“ braucht es keine großen Stimmen, aber sie müssen stets gut gestützt und in der Tonemission kontrolliert bleiben. Sonst werden Violetta und Alfredo in eine tour de force gedrängt, die sie kaum bewältigen. Olena Tokar hat als Violetta im ersten Akt einen Angst-Moment, in dem die Stimme nicht anspringt – und der verfolgte die Sängerin offenbar dann den ganzen Abend lang. In „É strano“ forciert sie erst auf Nummer sicher („Gioire ….“), um dann in „Sempre libera“ die bewegliche Freiheit einzubüßen. „Tu m’ami, Alfredo“: Der Ausbruch wird hysterisch, eng und problematisch artikuliert. Aber die langen Phrasen des zweiten Akts („Pietá, gran Dio…“) und die berührende Szene im dritten („Addio, del passato …“) gelingen glanzvoll, mit Empfindung und technisch solide. Olena Tokar hat, wenn sie frei und mit zuverlässiger Stütze singt, eine ideal timbrierte Stimme mit Fülle, satter, leuchtender Mittellage, geschmeidiger Tiefe und schlankem Glanz in der Höhe. Also beste Voraussetzungen, um an einem glücklicheren Abend eine exzellente Violetta zu geben.
Stütze ist auch das Thema bei Tenor Patrick Vogel. An sich hat sein elastischer, schlanker Ton Strahlkraft, setzt sich durch, ohne schwer oder baritonal fett zu werden, ist nicht schmelzend, aber deswegen nicht hart oder stählern. Aber Vogel geht – wohl, um Ausdruck zu erzielen – oft von der Stütze, singt mit flachem Atem, statt sich auf die Flexibilität seines Tons zu besinnen und dynamische Schattierungen nicht mit Verdünnung des Tons erreichen zu wollen. Wenn er die „palpiti“ der Liebe beschwört, will er zärtlich sein, aber er nimmt den Klang weg und spannt so den Phrasierungsbogen nicht aus.
Die Folge: „croce e delizia“ kann Vogel nicht leicht und gestützt ansteuern, sondern muss die Höhe mit zu viel Nachdruck erzeugen – sie wirkt geschrieen. In der Arie zu Beginn des zweiten Akts („Lunge da lei … De‘ miei bollenti spiriti“) buchstabiert er die Worte im Rezitativ sehr deutsch („dovizie, amori“) und ohne Legato, erreicht das „universo immemore“ nur mit Mühe und ohne fließend gebundene Phrasierung. Die Tugenden des schönen Singens sind keine Hexerei – man muss sie nur konsequent beachten.
Bei Mathias Hausmann als Giorgo Germont liegen die Dinge anders: Er entfaltet die Affekte in seiner Partie mit reichen stimmlichen Mitteln: die unfreiwillige Bewunderung für die Frau, die so ganz anders ist, als er es sich vorgestellt hat; die fordernde Kälte; die sentimentale Wärme seinem Sohn gegenüber in „Di Provenza“; den Ärger über den gesellschaftlichen Fauxpas Alfredos; die Erschütterung bei der Rückkehr zur todkranken Violetta. Bei Hausmann sind all die Emotionen durch eine solide Technik vokal abgesichert und wirken, weil sie aus der Musik entwickelt und nicht auf die Musik aufgesetzt werden.
In den Nebenrollen waren zuverlässige Routiniers (Dan Karlström als Gastone, Jürgen Kurth als Douphol) zu hören, aber auch einige sehr dünne Sätze. Der Chor war – ohne vorherige Probe! – mit dem Dirigenten nicht immer tempo-einig, hatte die Lage aber stets rasch im Griff und sang, trotz manch ungünstiger Aufstellung, mit balanciertem, unforciertem Klang. Summa summarum ein Abend mit Spannung, berührend und ohne lähmendes Blei an den Füßen.
Werner Häußner