LEIPZIG: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER. Premiere am 30.3.2019
Christiane Libor, Iain Paterson- Foto: Tom Schulze
LEIPZIG / Oper: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER, PREMIERE, 30.3. 2019
„Die Moral des Stückes ist für die Frauen, daß sie sich in Acht nehmen müssen, keinen fliegenden Holländer zu heurathen; und wir Männer ersehen aus diesem Stücke, wie wir durch die Weiber, im günstigsten Falle, zu Grunde gehen.“
Heinrich Heine : Die Fabel vom Fliegenden Holländer „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“
Leipzig hat mit diesem frühen Wagner-Geniestreich eine traumatische Erfahrung zu verarbeiten. Die Inszenierung des Fliegenden Holländers aus dem Jahr 2008 hatte das Publikum so verstört, dass sie nach nur einer Aufführung abgesetzt wurde. So stand in den Medien am 13.5.2008 zu lesen: „Die Oper Leipzig hat auf die scharfe öffentliche Kritik an der Neuinszenierung von Wagners „Fliegenden Holländer“ des 29-jährigen Regisseur Michael von zur Mühlen reagiert. Die kommende Vorstellung am Mittwoch (15.10.) wurde abgesetzt. Stattdessen ist das „Strawinsky-Projekt I“ (Ballett) zu sehen.“
Foto: Tom Schulze
Damit diesmal alles anders wird, hat man Regisseur Michiel Dijkema verpflichtet, der in Leipzig bereits mit seinen Arbeiten zu „Tosca“, „Faust“ und „Rusalka“ reüssierte, und sich um ein beeindruckendes, noch nie da gewesenes Bühnenbild bemüht. So hat sich im Vorfeld der Opern-Förderkreis zu einer heldenhaften Initiative aufgeschwungen. Um die 100.000 Euro für ein 20 Meter langes „echtes Geisterschiff“ aufzubringen, wurden die Mitgliedsbeiträge der 300 Mitglieder angezapft und weitere spendable Opernverehrer gefunden. Hat sich dieses begeisterte bürgerschaftliche Engagement nun auch künstlerisch ausgezahlt?
Was die Inszenierung, das Bühnenbild, die Technik und Maske anlangt, die die Rechnung auf jeden Fall aufgegangen. Michiel Dijkema erzählt in seiner persönlich zweiten Holländer-Inszenierung (nach 2013) von zwei Liebesgeschichten, teuflischen Intrigen, Gespenstern und norwegischen Dörfern, von der Suche nach Heimat, genüsslicher Ironie und einem die Urgewalten der Natur spielenden Theaterzauber.
Dabei belässt Dijkema die Geschichte in seiner Entstehungszeit in den 1840er Jahren und hat sich dazu auf Quellensuche gemacht. Zu seinem Holländerstoff hat Wagner einerseits bekanntlich die stürmische Schiffsreise auf seiner Flucht von Riga via London nach Paris inspiriert, auf der ihm die Matrosen von der Sage des Fliegenden Holländers erzählt haben. Andererseits hat Wagner Heines Romanfragment „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“ gelesen, in der der Protagonist in Amsterdam die Fabel vom Fliegenden Holländer im Theater sieht. So kamen Dijkema und sein Leading Team Julia Reindell (Kostüme) und Michael Fischer (Licht) dazu, entsprechende grobleinerne Kostüme zu entwerfen, aber auch Kupferstiche von historischen Theateraufführungen und angespülten Walen sowie Textauszüge aus dem Heine-Romanfragment in die Inszenierung zu integrieren.
Zum Entzücken der großen und kleinen Kinder im Publikum zeigt Dijkema alle Mittel der heutigen Möglichkeiten einer modernen Bühne (Drehtechnik, Hydraulik, Licht, Projektionen, Prospekte, Illusionstricks). Den gewaltigsten Vogel schießen zwei Effekte ab: 1) Im dritten Akt fährt doch tatsächlich ein gewaltiges Holzschiff mit blutrot aufgeblähten Segeln auf die Bühne und weit über den Orchestergraben bis über die Köpfe des Publikums hinweg bis in die Mitte des Parketts. Ob solcher staunenswerter Erfindung gibt es spontan Szenenapplaus für die gelungene Überwältigung. 2) Ganz am Schluss entschwindet Senta auf der Takelage in den Bühnenhimmel, nur um kurz darauf tot auf dem Bühnenboden aufzuprallen. Und ei guck, die ,echte‘ Senta liegt da auf einmal am Boden. Dass vorher eine zum Verwechseln ähnliche Puppe hochgezogen wurde, habe ich nicht bemerkt. Danach implodiert der Holländer wirkungsvoll zu Staub, ohne dass man gesehen hätte, dass der Sänger vorher verschwunden ist. Wow!
An Theaterzaubereien ist weiters von drei riesigen Walen zu berichten, die am Strand des Dorfes gestrandet sind. Der Holländer schneidet aus dem Bauch eines der Tiere der Holländer seine Schätze, die er vor Daland ausbreitet. Die „Stube“ im zweiten Akt trägt dem Industriezeitalter Zoll. In einer Spinnereifabrik hängen überlebensgroße Seidenkokons in Monster-Marshmallow-Format von der Decke. Riesige Maschinen drehen sich, eine gigantischer Schmetterling in rot wird auf die Hinterbühne projiziert. Hier hollywoodisiert Dijkema gekonnt nach dem Muster von „Charlie und die Schokoladenfabrik.“
Mich persönlich hat Dijkemas Ansatz überzeugt, nicht zuletzt wegen der unglaublichen Poesie des Gezeigten, aber auch weil er die Beziehung zwischen Senta und dem Holländer neu deute. Der niederländische Regisseur zeigt uns eine veritable Liebesgeschichte. „Er liebt sie und will sie verlassen, um sie nicht ins Verderben zu ziehen“, wusste schon Heine. „Er verzichtet für sie auf die Möglichkeit der eigenen Erlösung. Wenn Senta sich in den Tod stürzt, bringen also beide ein großes Opfer füreinander.“ so der Regisseur in einem interview.
Musikalisch wurde auf die heute seltener gespielte Version in drei Aufzügen mit Aktschlüssen aus dem Jahr 1843 zurückgegriffen. (A propos: Der Fliegende Holländer war in Deutschland in der vergangenen Saison die meistgespielte Wagner Oper und stand im Ranking der am häufigsten aufgeführten Opern an prominenter fünfter Stelle). Das ist aus Sicht des Produktionsteams auch formal sinnvoll, weil „an vielen Stellen noch die Nummernstruktur der italienischen Oper durchschimmert und Vorbilder wie Weber, Marschner oder Spohr durchklingen.“ Eine Modifikation wurde allerdings vorgenommen: Bei der Ouvertüre hat man sich für die Urfassung ohne Erlösungsschluss entschieden.
Sängerisch ist leider von großen Defiziten zu berichten: Von der Premierenbesetzung hat mich einzig und allein Christiane Libor als Senta 100%ig überzeugen können. Die brünnhilden- und isoldengeeichte Hochdramatische aus Berlin mit einer der aktuell schönsten Sopranstimmen überhaupt hat sich genügend an Geschmeidigkeit und Pianokultur bewahren können, um eine modellhafte Interpretation der Senta abliefern zu können. Libor verfügt über ein betörendes Timbre, hält eine wahre vokale Schatzkiste an Farben, glühenden Emotionen und künstlerischer Authentizität bereit. Die Ballade, ihr Part im Duett des zweiten Aktes und der spannungsreiche Schluss der Oper sind die musikalischen Perlen der Aufführung. In Sachen Intensität, Unbedingtheit und mächtig auffblühenden Höhen braucht Libor keinen Vergleich mit den berühmtesten Vertreterinnen der Rolle zu scheuen. Libors Sopran ist aus dem Stoff, der Neulinge zu Opernfreaks macht und Abgebrühte wieder an die Kunstform Oper glauben lassen.
Der schottische Heldenbariton Iain Paterson in der Titelrolle ist ein großer Könner seines Fachs. Er ist hochmusikalisch, phrasiert intelligent und ist textverständlich. Leider klingt die Stimme besonders in der Tiefe aktuell bröselig. Insgesamt ist mir Patersons Ton zu sachlich für die Dämonie der Figur, zudem fehlt ihm jenes entscheidendes letztes Quentchen an Volumen und Strahlkraft, das dem Zuhörer direkt in Herz und Magen geht. Auf der Habenseite gelingt ihm als großer Liebender eine berührendes Rollenporträt.
Ladislav Elgr (Erik), Christiane Libor (Senta). Foto: Tom Schulze
Der kanadische Bass Randall Jakobsh in der Rolle des Daland ist im ersten Akt eine Zumutung: Verfärbte verquollene Vokale, Intonationstrübungen, Höhenprobleme, rauf- und runtergeschliffene Phrasierung, nein das bereitet kein Vergnügen. Im zweiten Akt erholt er sich allmählich und findet zu einer passablen Form. Ähnlich enttäuschend ist der tschechische Zwischenfachtenor Ladislav Elgr als Erik. Im gebrüllten Einheitsforte geraten viele Höhen steif und unbeweglich. Im dritten Akt stemmt Elgr die exponierten Töne gerade noch so dahin. Grenzwertig. Der finnische Tenor Dan Karlström nennt ein beachtliches Stimmpotential sein Eigen. Leider übersteuert unser Steuermann sängerisch. Warum ist es so schwer, zumindest zwischendurch einmal Piano zu singen? Er darf als einziger einen Doppelrolle spielen. Er ist nicht nur Steuermann, sondern auch Schwabelewopski, und seine Geschichte mit dem Gspusi im Theater mimt. Karin Lovelius als Mary ist ohne Fehl und Tadel.
Nichts weniger als gigantisch ist die Leistung der Chöre (Chor und Zusatzchor, einstudiert von Thomas Eitler-de Lint) der Oper Leipzig zu bezeichnen. Eine ähnliche Qualität die Männerchöre betreffend habe ich nur in der Wiener Staatsoper und in Bayreuth erlebt. Das Gewandhausorchester Leipzig macht dem Geburtsort Wagners jede Ehre. Besonders das Blech und die Holzbläser spielen alle Stückerln. Ulf Schirmer arbeitet jedes theatralische Detail heraus und lässt den Luxussound des Edelklangkörpers gleißen und glühen. Allerdings krachen manche Fortissimo-Stellen so schroff und kantig, dass einem um die Sänger und die eigenen Ohren Angst und Bang werden kann.
Fazit: Es ist von einer Aufführung zu berichten, die entgegen der üblichen Tendenz „Augen zu – Ohren auf“ manchmal das Gegenteilige nahelegt. Die Inszenierung hat wegen ihrer Originalität und optischen Atous alles Zeug, zu einer Theaterlegende zu werden. Wie schön, einmal nicht von kahlen Zimmern, Anzugträgern, Koffern und sonstigem billigem Regietheaterzubehör erzählen zu müssen. Der Triumpf der Infrastruktur der Oper in Leipzig zeigt sich auch am Schlussapplaus: Am stärksten werden Chor, Regieteam (!) und die Senta von Christiane Libor bejubelt. Vielleicht werden ja für die eine oder andere Folgevorstellung adäquatere Teil-Besetzungen gefunden.
Anmerkung: Die Premiere markiert einen weiteren Schritt in Vorbereitung auf die Opernfesttage „Wagner 22“ der Musikstadt Leipzig im Sommer 2022. Die Leipziger Oper verfolgt das ziemlich einmalige Ziel, bis dahin alle Opern Richard Wagners inklusive seiner Frühwerke im Repertoire zu führen und sie im Juni/Juli desselbigen Jahres in der Reihenfolge ihrer Entstehung innerhalb von dreieinhalb Wochen zur Aufführung zu bringen.
Weitere Termine
Montag 22.04.2019, 18:00 Uhr, Opernhaus
Sonntag 12.05.2019, 18:00 Uhr, Opernhaus
Freitag 17.05.2019, 19:30 Uhr, Opernhaus
Donnerstag 30.05.2019, 18:00 Uhr, Opernhaus
Montag 10.06.2019, 17:00 Uhr, Opernhaus
Donnerstag 10.10.2019, 19:30 Uhr, Opernhaus
Donnerstag 17.10.2019, 19:30 Uhr, Opernhaus
Samstag 02.11.2019, 19:00 Uhr, Opernhaus
Sonntag 24.11.2019, 18:00 Uhr, Opernhaus
Samstag 30.05.2020, 19:00 Uhr, Opernhaus
Ingobert Waltenberger