Leipzig: Das „Bachfest Leipzig 2016“ mit sofortigen Glanzpunkten, 14.06.2016
Gemessen an den ersten vier Tagen ist das Bachfest Leipzig (10.-19. Juni 2016) offenbar auf dem besten Weg, ein herausragender Jahrgang zu werden. Ein neuer Thomaskantor ist auch gewählt, für die Leipziger und die jedes Jahr anreisenden Bachfest-Besucher jedoch ein hochgeschätzter alter Bekannter: Gotthold Schwarz (64).
Jahrelang sprang er immer wieder selbstlos ein, wenn Amtsinhaber Prof. Georg Christoph Biller aus Krankheitsgründen ausfiel. Seit Billers Rücktritt im Vorjahr war Schwarz Interims-Thomaskantor, nun ist er es offiziell und der 17. Thomaskantor nach Johann Sebastian Bach. Beworben hat er sich nicht um die vakante Stelle. Als aber vier Kandidaten nicht voll überzeugten, wurde er kürzlich mit großer Mehrheit vom Leipziger Stadtrat gewählt.
Thomaskantor Gotthold Schwarz dirigiert Chöre und Gewandhausorchester © Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Nicht nur die „Geheimnisse der Harmonie“ – das diesjährige Bachfestmotto – haben bei seiner Wahl den Ausschlag gegeben. Mit dem Eröffnungskonzert am 10.06. in der bis auf den letzten Platz gefüllten Thomaskirche liefert Gotthold Schwarz sogleich sein Antritts-Meisterstück. Nach Johann Sebastian Bachs „Passacaglia c-Moll“ BWV 582, auf der Bachorgel von Thomasorganist Ullrich Böhme kraftvoll und wohl strukturiert gespielt, steht die Bach-Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ BWV 20 auf dem Programm.
„Eines von Bachs großartigsten Stücken,“ betont Sir John Eliot Gardiner, Präsident des Bach-Archivs Leipzig, in der Einführung zu Bachs Kantatenjahrgang 1723/24. Bach komponierte dieses zweiteilige Werk 1724, ein Jahr nach seiner Anstellung als Thomaskantor.
Angst vor dem Jüngsten Gericht und Hoffnung auf Erlösung sind der Inhalt, den Gotthold Schwarz nun zusammen mit dem strahlend singenden Thomanerchor, den Gewandhaus-Instrumentalisten und großartigen Gesangssolisten ohne Hektik, manchmal fast swingend und auf diese Weise sehr überzeugend darbietet. In den Rezitativen und Arien gefallen die junge Altistin Elisabeth Wilke, der Bass Tobias Berndt und vor allem Martin Petzold, der seinen schönen Tenor mit Wärme und Wendigkeit einsetzt.
War das schon eine perfekte Leistung, so übertrifft das ein Fragment gebliebene „Requiem“ WoO V/9 von Max Reger, was die Opulenz der Aufführung betrifft, die Bach-Kantate doch bei weitem. Es ist das maßlose Werk eines Maßlosen, der vor 100 Jahren – 43 Jahre jung – in Leipzig unerwartet einem Herzschlag erlag. Seine Musik bildet den Schwerpunkt bei diesem Bachfest und lässt staunen.
Drei große Chöre muss Gotthold Schwarz nun koordinieren: den Thomanerchor Leipzig, den ThomasSchulChor, einstudiert von Michael Rietz und Ulrike Gaudigs, sowie den Leipziger Universitätschor von David Timm. Hinzu kommen noch die Damen und Herren vom Gewandhausorchester Leipzig plus Daniel Beilschmidt als Rhythmusgeber an der Orgel sowie die Solistinnen und Solisten, diesmal bereichert durch Julia Sophie Wagner, deren Sopran stets wie eine Leuchtrakete emporsteigt.
Das Requiem gelingt exemplarisch, denn alle sind bestens vorbereitet, und so braust nach raunendem Beginn eine fast unglaubliche Klangfülle durch die Thomaskirche. Die Dissonanzen, die vor allem beim „Dies Irae“ noch heute Gänsehaut hervorrufen, hat Reger selbst hineinkomponiert, der Musikkoloss (auch in Kilos) zwischen Spätromantik und Moderne. In Noten fasste er die Schreckensbilder, die ihn nach Beginn des Ersten Weltkriegs erreichten.
Lange hat sich niemand an dieses äußerst anspruchsvolle Fragment herangewagt. Der Introitus wurde 1938 in Berlin uraufgeführt, das Dies Irae erst 1979 in Hamburg. Das Bachfest Leipzig leistet nun Maßgebliches für eine zu erhoffende Reger-Renaissance, wird doch der einstige Superstar bei der sonstigen Programmgestaltung nur selten berücksichtigt. Diese Aufführung sollte trotz des Aufwands kein Einmalereignis bleiben.
Für Reger war Johann Sebastian Bach „Anfang und Ende aller Musik“. Doch wie deutlich überwiegt bei Bach zuletzt die Hoffnung, in Gottes „Freudenzelt“ einzutreten. Nur einmal schimmert Ähnliches bei Reger durch in dem Vers „Qui Mariam absolvisti…“ (hast vergeben einst Marien, gemeint ist die Sünderin Maria Magdalena).
Hätte er nach den ungestümen Schreckensklängen und den Hinweisen auf einen Gott, der drohend auf dem Richterthron sitzt, die Hoffnung auf Erlösung artikulieren können? Wer weiß. Hier fügt man Bachs Sterbechoral an aus „O Ewigkeit, du Donnerwort“: „Es ist genug; Herr, wenn es Dir gefällt“. Ein überzeugender und überzeugend musizierter Schluss, gefolgt von frenetischem Jubel und standing ovations.
——————————————————————————–
11.06. Fast Unbekannte bieten ungeahnte Überraschung
Der Titel „Lateinische und deutsche Kirchenmusik“ klingt wenig spektakulär, doch die weitgehend unbekannte Formation namens „Solomon’s Knot baroque collective“ unter der Leitung von Jonathan Sells verblüfft an diesem Abend in der Nikolaikirche. Die 2008 gegründete Gruppe mit dem Schwerpunkt Alte Musik wird von den künstlerischen Leitern Jonathan Sells und James Halliday von London und Bern aus betreut.
Thomas Herford, Zoë Brookshaw, Martha McLorinan, Jonathan Sells © Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Das funktioniert offenbar, denn alles klappt wie am Schnürchen. Darüber hinaus ist jeder und jede der acht Interpreten/innen mal Chormitglied, mal Solist/in. Sie treten vor und singen ihren Part mit hörbarer Begeisterung, mal allein, mal zu mehreren, mit Körpereinsatz wie der junge Tenor Thomas Herford oder mit freudigem Lächeln, wie Charmian Bedford.
Insgesamt ergibt sich ein „Wandelkonzert“ vor dem Altar. Jeder und jede kommt an die Reihe, Zoë Brookshaw mit ihrem schmiegsamen Sopran jedoch öfter, u.a. als Seele im Dialog mit Jesus (Jonathan Sells, Bass). Das sind berührende Minuten. Als Chor beeindrucken sie alle durch Präzision und Volumen.
Engagiert bringen sie Bachs besonders umfängliche Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“, BWV 21, komponiert vor seinem Wechsel nach Leipzig, danach „Machet die Tore weit“ von Johann Schelle (1577-1701) und als Krönung Bachs „Magnificat Es-Dur“, BWV 243a. Das animierte Publikum bejubelt diese ungewöhnliche Darbietung.
———————————————————————-
12.06. „Nichts als Meisterstücke“ heißt es am Sonntag um 17:00 Uhr in der Nikolaikirche. Das klingt hochtrabend, doch Bachs Kantaten verdienen diese Bezeichnung. Zu Diensten sind Concerto Köln und der Knabenchor Hannover (!) unter der lebhaften Gesamtleitung von Jörg Breiding.
Joanne Lunn (Sopran), Concerto Köln und Knabenchor Hannover © Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Auch die Solisten lassen keine Wünsche offen. Dass neben Joanne Lunn (Sopran), Margot Oitzinger (Alt) und Benjamin Bruns (Tenor !) auch der bewährte Peter Kooij (Bass) mit dabei ist, freut besonders. Für seine langjährigen Leistungen hat er dieses Jahr in Leipzig die Bachmedaille erhalten.
Ihnen allen gelingt es, die musikalischen und thematischen Unterschiede der 5 Kantaten heraus zu arbeiten. Programmfolge: „Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret“, BWV 31 – „Mein Gott, wie lang, ach lange“, BWV 155 – „Sie werden aus Saba alle kommen“ BWV 65 – „Herr, wie du willst, so schicks mit mir“, BWV 73 und „Singet dem Herrn ein neues Lied“, BWV 190. Diese letzte Kantate, ein Höhepunkt, ist sogleich als Aufforderung zu verstehen.
Am Abend des 12.06. „Zauber der Musik: Bach goes South“ im Gewandhaus Leipzig. Kristjan Järvi, Chef des MDR Sinfonieorchesters und oft für Überraschungen gut, lässt die stattliche Anzahl der Instrumentalisten mit Bachs „Passacaglia[und Fuge] c-Moll“, BWV 582 starten, jedoch als „Sinfonische Transkription für Orchester von Leopold Stokowski“ (1882–1977).
Gekonnt und rhythmisch ganz exakt verfolgt und bündelt Järvi die Fäden. Große Klänge, große Linien. Bach naturell gefällt mir persönlich allerdings besser. Zurück zu Bach selbst führt dann Järvis Zugabe, der Choral aus der Kantate „Christ lag in Todesbanden“. Satt strömt sie durch den Großen Saal.
Dann zu Liszts „Konzert Nr. 1 Es-Dur“, gespielt von einem umschwärmten Superstar von heute, dem erst 18-jährigen malayischen Tastentiger Tengku Irfan. Geschmeidig huschen seine Finger hin und her, nichts ist zu schwierig, alles gelingt. Bei der Phrasierung ist noch Luft nach oben, dafür braucht dieses sympathische Supertalent noch etwas Zeit.
Als Komponist betätigt er sich ebenfalls. „Vivacity“ heißt sein Stück, das rasant durch die Musikliteratur eilt, u.a. Gershwin zitiert und schließlich Ravels Bolero anklingen lässt. Er hat es Kristjan Järvi gewidmet, und bei diesem Rhythmiker ist es in den allerbesten Händen und Füßen. Schade, dass Tengku Irfan keinen Klavierpart eingebaut hat. Das Orchester, von Järvi herausgefordert, legt sich ins Zeug und zeigt keine Scheu vor dissonanten Zuspitzungen. Danach heftiger Beifall für alle, natürlich auch für den jungen Komponisten.
Den Wohlklang-Kontrast mitsamt „Järvi-Choreografie“ bieten zuletzt die „Bachianas brasileiras Nr. 4“ von Hektor Villa-Lobos (1887-1959). Die volksliedhaften, eher schwermütigen Melodien fressen sich in Herz und Hirn. Den traumhaft schönen Choral, ein Highlight des 4-sätzigen Werkes, lässt Järvi – nach heftigem Applaus – zuletzt noch einmal spielen.
———————————————————————————————————
13.06. „Neue Passion“
Collegium Vocale Leipzig, Merseburger Hofmusik, Britta Schwarz, Alt, Leitung Michael Schönheit © Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Bachs am Vortag gehörte Aufforderung „Singet dem Herrn ein neues Lied“ wird an diesem Montag in die Tat umgesetzt. Ein weiterer Versuch, Bachs verschollene „Markus-Passion“ BWV 247 zu rekonstruieren. Das aber anders als bisher gewohnt.
Steffen Schleiermacher, 1960 in Halle geboren und Atheist, war das Thema Markus-Passion, wie er selbst einräumt, zunächst nicht geläufig. Michael Schönheit, Gewandhausorganist in Leipzig und Domorganist in Merseburg, hatte ihn jedoch jahrelang dazu gedrängt. Anders als seine Vorgänger verbindet nun Schleiermacher die erhalten Bach-Originalteile (2 Chöre und 5 Arien) mit seinen modernen Neukompositionen. Teils brechen sie wie Gewitter in die Bach-Musik ein, ergänzen sie jedoch feinfühlig in der Sterbeszene. Das erscheint als ein richtiger Weg, die Markus-Passion zu beleben.
Das Libretto für Schleiermachers Musik hat der Lyriker und studierte Theologe Christian Lehnert verfasst. Im Gegensatz zu den schlicht geschilderten Geschehnissen in den Original-Bachpassionen bebildert er Jesu Zustand und Gefühle auf diesem Todesweg mit ausschweifenden Assoziationen. Vielleicht sind es auch die Vorstellungen eines mitfühlenden Zuschauers, meinend, der Gepeinigte müsse in bestimmten Situationen so empfinden.
Ein Beispiel aus Punkt 17, als Jesus am Kreuz dem Sterben nahe angeblich folgende Gedanken hegt: „Das ist mein Leib! Er wächst wie ein Vulkan im Urmeer, wie die wimmernden Kaulquappen im Sumpf, wie ein Embryo“.
Schleiermacher nimmt die Chance wahr, solche Lyrismen in Töne zu fassen und Jesu Leiden fassbar darzutun. Vielleicht sind es auch die Qualen der Tausenden, die täglich zu Tode gefoltert werden, einst und jetzt. Die Musik überzeugt mehr als der Text. Atemstöße und Herzschläge lassen sich heraushören. Der Höhepunkt mit teilweisem Bach-Bezug: „Punkt 13, „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen“.
Letztendlich sind es das große Können und restlose Engagement aller Beteiligten, die das Werk dem Publikum in der Nikolaikirche nahe bringen. Großes Lob verdienen die Solistinnen und Solisten, die Bach und Schleiermacher gleichermaßen treffend und ausdrucksstark singen: Gesine Adler (Sopran), Britta Schwarz (Alt), Eric Stokloßa (Tenor) und Dirk Schmidt (Bass). Großartig auch das Collegium Vocale Leipzig und die Merseburger Hofmusik.
Einer – Michael Schönheit – hat alles in sorgsamen Händen, fasst alt und neu versiert zusammen, gibt präzise Zeichen und verhilft allen Mitwirkenden zu Höchstleistungen. Dass bei den Original-Bach-Stücken ein Strahlen über sein Gesicht geht, ist deutlich zu sehen. Doch mit großem persönlichen Einsatz verhilft er auch dieser, Tradition und Moderne vereinenden Neuen Passion zum Gesamterfolg und damit dem Bachfest Leipzig 2016 zu einem neuem Lied. Beim Schlussjubel stellt er sich bescheiden beiseite und überlässt die Ovationen den glücklichen Mitwirkenden. Schleiermacher und Lehnert werden ebenfalls gefeiert. Die Zukunft wird zeigen, ob sich ihre Version durchsetzt.
Für das kommende Jahr sind laut der Vorschau die Weichen auch schon gestellt. „Ein schön new Lied“ – Musik und Reformation, ist das Bachfest-Motto vom 09.-18. Juni 2017.
Ursula Wiegand