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LEIPZIG/ Bachfest Leipzig 2022: „BACH – WE ARE FAMILY“

20.06.2022 | Konzert/Liederabende

Leipzig / Bachfest Leipzig 2022: „BACH – WE ARE FAMILY“, 09.-19. Juni 2022

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Bachfest Leipzig 2022: Sir John Eliot Gardiner dirigiert Schützt und Bach. Foto: Bach Archiv:  Leipzig: Gert Mothes

Dieses Motto hat wirklich gepasst und sich in Leipzig erneut bewahrheitet. „Endlich“, sei hinzugefügt, war doch dieses Programm für 2020 geplant worden, musste dann aber wegen des plötzlichen Corona-Lockdowns kurzfristig abgesagt und verschoben werden.

Aber nicht aufs Jahr 2021, da auch dieses schon durchgeplant war. Nun kamen alle Musikfans in diesem Jahr in den ersehnten Genuss. Das gerade beendete Bachfest Leipzig 2022 war also die erste Präsenz -Veranstaltung seit 2019. Sie wurde ein voller Erfolg und übertraf alle Erwartungen.

Vielleicht war das rückblickend auch den blitzschnell gefertigten Streams und den zahlreichen Fortsetzungen während der Zwangspausen zu verdanken. Schon am Karfreitag 2020 wurde eine Konzert-Version von Johann Sebastian Bachs Johannes Passion aus der Thomaskirche weltweit ausgestrahlt, die vielen unvergesslich geblieben ist.

Bach-Experten und Chöre aus diversen Ländern hatten durch zugespielte Beiträge mitgeholfen. Schon in jener Notsituation funktionierte die Bach-Familie. Vermutlich haben diese Streaming-Aktivitäten das Bachfest Leipzig noch bekannter gemacht und die Neugier geweckt. Mit 64.000 Besucherinnen und Besuchern aus mindestens 51 Ländern  (nach zuvor 44) sind nun die vorab gehegten Erwartungen weit übertroffen worden.

Zu den 153 Veranstaltungen reisten auch 51 Chöre, 43 Orchester mit insgesamt 870 Mitwirkenden, 94 Mitglieder von Kammermusik-Ensembles, 178 Gesangssolistinnen und -solisten sowie 54 Dirigentinnen  und Dirigenten an. Die freudvolle Stimmung ließ sich im sommerlich warmen Leipzig allenthalben mit den Händen greifen. 

Gleich zum Eröffnungskonzert am 09. Juni war die Thomaskirche voll und die Spannung auf das lange Vermisste deutlich spürbar. Die Bachorgel, gespielt von Thomasorganist Johannes Lang, flutete durchs Gotteshaus. Manche trugen noch Masken, andere nicht.

Zwei Werke von Johann  Sebastian Bach und zwei von seinem berühmten Sohn Carl Philipp Emanuel Bach wurden vom Thomanerchor, den Solistininnen und Solisten sowie dem Gewandhausorchester mustergültig dargeboten. Die Stimme von Henryk Böhm, Bass, hat mir besonders gefallen.

Der vom Rat der Stadt Leipzig 2020 gewählte neue (katholische) Thomaskantor Andreas Reize, ein Schweizer, brachte hörbar Schwung in den Thomanerchor und profitierte wohl auch von einem altersmäßig passenden Jahrgang. Die Knaben-Soprane gefielen ebenso wie die Stimmen der jungen Tenöre.

Zügig wurde jedes dieser Werke dirigiert, gesungen und gespielt. Überzeugend gelang insbesondere das „Gott hat den Herrn auferwecket“ von Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788), dem berühmtesten der Bachsöhne, auch der Hamburger Bach genannt, den das damalige Publikum bald mehr schätzte als seinen Vater.

Sehr beeindruckend gelang dennoch Johann Sebastians jugendfrisches Himmelfahrts-Oratorium „Lobet Gott in seinen Reichen, BWV 11.  – Insgesamt war es ein Auftakt nach Maß.

Nach diesem ersten Konzert stand draußen auf dem Thomaskirchhof ein Jugendsinfonie-Orchester aus der Ukraine. Zu Füßen des Bach-Denkmals spielten die jungen Leute ohne Fehl und Tadel Martin Luthers „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten“ und sangen den Text auf Deutsch.

Adhoc hatten die Veranstalter noch je ein Konzert in der Thomaskirche und eines auf dem Markt eingeschoben, das die jungen Ukrainer gemeinsam mit dem GewandhausJugendchor aufführten. 13.000 Euro wurden per saldo als Unterstützung gespendet.

Sehr Gutes war auch im Paulinum – Aula und Universitätskirche St. Pauli zu hören, wiedererbaut nach der 1968 durch die DDR veranlassten Sprengung. Mal gefiel dort reiner Johann Sebastian Bach in dem modernen reinweißen Gotteshaus. Mit  leuchtenden Stimmen sangen Ulrike Malotta, die Einspringin Anna-Lena Elbert, Andreas Post und der bewährte Klaus Mertens unter der Leitung von Christoph Siebert das „Cantate Domino I“.

Wieder „en famille“ musisierte an gleicher Stelle die französische Dirigentin Françoise Lasserre bei ihrem Programm „Mit Psalter und Harfen“. Sie begann mit Nicolaus Bruhns und seinem e-Moll-Präludium, das als das kühnste Orgelwerk vor Bach gilt und von Daniel Beilschmidt mit Bravour gespielt wurde.

J. S. Bach
: war mit „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir° dabei, und Dietrich Buxtehude kam auch zu seinem Recht. Sehr gut und ausdrucksvoll sangen die Damen und Herren von „Akadêmia“. Vor allem die Sopranistin Eugénie Warnier, eine ausgebildete Medizinerin, die anschließend Gesang studiert hatte, sang ihren Part mit leuchtenden Augen.

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Bachfest Leipzig 2022: -Große ausdrückende Lamenti. Nikolaikirche. Foto: Bach Archiv Leipzig/ GertMothes

Ganz andere und ungewöhnliche Eindrücke vermittelte allerdings gleich am ersten Tag ein Konzert in der Nikolaikirche mit dem Titel: „Große ausdrückende“ Lamenti“. Lamenti bedeutet Klagen, und es wurde viel geklagt. Doch  wann ist so etwas Seltenes überhaupt mal zu hören?

Dabei ging es um Werke von Johann Adam Reinicken (1643-1722),k Nicolaus Bruhns (1665-1697) sowie frühere Mitglieder der extrem musikbegabten Bach-Familie, die sicherlich auch Johann Sebastian Bach beeinflusst haben, wie Johann Bach (1604-1673) und Johann Christoph Bach, (1642-1703), der sogar mit drei Stücken vertreten war.

Mit wieviel Können und Fantasie haben jene schon komponiert! Wie überzeugend haben sie Angst, Verzweiflung, Reue und Erlöungshoffnung in Noten gefasst! Vielleicht konnten diejenigen das Konzert am meisten genießen, die kein Programmheft gekauft hatten und die vertonten Texte nicht mitlesen konnten.

Denn die thematisieren vor allem die Ängste derjenigen, die nicht immer ganz fromm gewesen sind und nun fürchten, in der Hölle zu landen. „Wie bist du denn, o Gott, in Zorn auf mich entbrannt“, fragt ein Verzweifelter.

Wer das heutzutage liest, fragt sich, warum und zu welchem Zweck solch ein Klima der Angst erzeugt wurde. Das Leben war damals angeblich nur ein Jammertal, und Schreckliches wurde den „Sündern“ nach dem Tod angedroht. Ging es nur darum, die schwachen Menschen vor dem Bösen zu bewahren oder um sie zwecks Buße zu Spenden zu animieren?  Erst Johann Sebastian Bach lockerte in diesen „Lamenti“-Konzert mit dem Hoffnung spendenden „Christ lag in Todesbanden“, diese seelischen Fesseln.

Auch überwog zuletzt die staunenswerte und facettenreiche Musik und ihre perfekte Darbietung. Der Dirigent Václav Luks, Gründer des Barockorchesters Collegium 1704,  hat die Verbreitung dieser kaum bekannten Musik-Schätze auf seine Fahnen geschrieben. Das haben diese Kompositionen durchaus verdient.

Da das Bachfest stets viele Facetten hat, sei auch die Darbietung von J.S.Bachs Cellosuiten (drei von sechs) mit Loop-Inventionen im Salles de Pologne kurz erwähnt. Als Einspringer wurde Sergey Malov tätig, ein preisgekrönter Bach-Interpret, der neben seinem auf der Schulter zu spielendes Violoncello da spalla noch weitere Instrumente sowie Digitaltechnik (Loop) benutzte. Einige Gäste flüchteten bald, andere in der Pause, doch die Mehrheit applaudierte zuletzt durchaus.

Die wahren Highlights in (nicht nur) meinen 3 ½  Bachfest-Tagen waren ganz jedoch andere und erhielten Standing Ovations. Das eine war – wen wundert’s – ein Konzert mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists, erdacht und geleitet von Sir John Eliot Gardiner.

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Bachfest 2022-: Sir John Eliot Gardiner nach dem Konzert in der Nikolaikirche. Foto: Ursula Wiegand

Es ging um Bachs Wurzeln, in diesem Fall um „Musicalische Exequien“, eine einst berühmte Begräbnismusik für Singstimmen und Basso continuo von Heinrich Schütz.

Das Bachfest schrieb dazu: Heinrich Schütz galt den hiesigen Musikern des 17. Jahrhunderts als der „Vater unserer modernen deutschen Musik.“ Auch Bach wird mit dessen Werken aufgewachsen sein. Grund genug, um Heinrich Schütz, der vor 350 Jahren starb, ein besonderes Konzert zu widmen.

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Bachfest Leipzig 2022: Sir John Eliot Gardiner dirigiert Schütz und Bach. Foto: Bach-Archiv Leipzig/Gert Mothes

Gardiner, der durch den Mittelgang zum Altar und zu den Mitwirkenden schritt, hat Stücke von Schütz und dessen „Musicalische Exequien“ überaus gekonnt mit zwei Bach-Werken kombiniert:„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, BWV 106, und  „O Jesu Christ, meins Lebens Licht, BWV, 118.

Darüber hinaus wechselte Gardiner öfter die Platzierungen im Chor und bei den Instrumentalisten, um alle Passagen zu bester Wirkung zu bringen. Dass gelang so faszinierend, dass ich mich nur noch auf sein Dirigat und die perfekten Leistungen der Mitwirkenden konzentrierte.

Das Erlebte steht aber, das wird sofort klar, so in keinem Notenbuch, was Prof. Peter Wollny, Direktor vom Bach-ArchivLeipzig, bestätigt. „All’ das hat er selbst zusammengefügt und arangiert und dabei auf seine Kindheitserfahrungen zurückgegriffen. In Gardiners Familie wurde sehr vieles von Schütz gesungen, und seine Lieblingsstücke hat nun John Eliot Gardiner in dieses Konzert eingefügt“, erklärt Wollny  lächelnd.

Jubel und „Standing Ovations“ füllten schließlich die Nikolaikirche. Gardiners Zugabe war die Begräbnis-Aria „Es ist nun aus mit meinem Leben“ von Johann Christoph Bach.

Ist so etwas überhaupt zu toppen? Eigentlich nicht. Aber anderes, nun in der Thomaskirche, war ebenfalls überwältigend, obwohl es schlicht „Bach-Familienkonzert Hamburg 1786“ genannt war. Dass sich die Bachfamilie einmal pro Jahr zum Singen und Musizieren zumeist in Thüringen traf, ist bekannt. Aber in Hamburg?

Es war dort Carl Philipp Emanuel Bach, der diese Familientradition in Ehren hielt, obwohl er anders als sein Vater komponierte. Jedenfalls präsentierte er im April 1786 in einem Benefizkonzert den Hamburgern einige Spitzenwerke des 18. Jahrhunderts: Es waren das Credo aus der h-Moll-Messe seines Vaters sowie zwei Sätze aus Händels „Messias“, die er mit eigenen Stücken verknüpfte.

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Bachfest Leipzig 2022: Christophe Rousset dirigiert Les Talens Lyriques. Foto: Bach Archiv Leipzig/GertMothes

Das französische Ensemble Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset hat das damalige Programm rekonstruiert, und so wird aus dem einstigen Familienkonzert ein Festkonzert anlässlich der Fertigstellung der C.-P.-E.-Bach-Gesamtausgabe.

Mit dabei war auch das bekannte Vokalconsort Berlin unter der Leitung von David Cavelius (Chordirektor an der Komischen Oper Berlin). Sie alle verwandelten dieses hochkarätige Ex-Familienkonzert,  speziell dank „Händels „Messias“, zu einem ungemein bejubelten Highlight. Wie Engelschöre, fern von jeder Schrillheit, gelang das letzte Textmotiv, das bekanntlich mehrfach um eine Tonstufe höher wiederholt wird. Händel hat also doch noch, anders als zu Lebzeiten, die Bach-Familie besucht. Das Publikum war zu Recht außer sich vor soviel Glanz und Herrlichkeit.

Erwähnt sei noch, dass der weltbekannte Pianisten und exzellenter Bach-Interpret Sir András Schiff am 16. Juni die Bach-Medaille der Stadt Leipzig erhielt. Außerdem wurde nach intensiven Recherchen die Neuausgabe des Bach-Werke-Verzeichnisses vollendet.

Ganz andere Überraschungen hatte das vielfältige Leipzig  nun wieder auf dem Markt parat. Die dortige „BachStage“ lockte am Eröffnungswochenende knapp 18.000 Gäste an, die die viermaligen Breakdance-Weltmeister Flying Steps und die Rock’n‘Roll-Band Firebirds bestaunten.

Andererseits wurde auf dem Markt auch die Kammermusikfassung der Johannes-Passion aufgeführt, die, wie erwähnt, am Karfreitag 2020 in der Thomaskirche den Lockdown überbrückt hatte. In frischer Luft konnte nun das Publikum die Choräle mitsingen und hat es getan.

And hat man auch wieder getan: mehrere Konzerte wurden vom MDR, dem Deutschlandfunk und erstmals auch von der Deutschen Welle gestreamt. Vielleicht veranlasst solches noch mehr Interessierte vom 8. bis 18. Juni zum Bachfest Leipzig 2023 zu reisen, trägz es doch den Titel „BACH for Future“. Bis dahin können alle nur hoffen, dass bald die Bitte „Dona nobis pacem“ aus J.S. Bachs h-Moll-Messe, die stets das Bachfest Leipzig beendet, doch noch in Erfüllung geht.   

Ursula Wiegand

 

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