Bachfest Leipzig 2017/ „EIN SCHÖN NEW LIED“, 09.-18.06.2017
Luther und 500 Jahre Reformation – dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch das diesjährige Bachfest in Leipzig. „Ein schön new Lied – Musik und Reformation“ lautet der komplette Titel.
Martin Luther, gemalt 1528 von Lucas Cranach d.Ä., Foto Ursula Wiegand
Nicht wenige seiner knapp 40 Kirchenlieder und Choräle, die der auch musikalisch begabte Luther schuf, werden noch immer in evangelischen Kirchen gesungen. Luther liebte die Musik und nannte sie ein „herrlich und göttlich Geschenck und Gabe“. Nun erklingen sie in zahlreichen Bachfest-Konzerten, insbesondere der „Hit“ von 1529: „Ein feste Burg ist unser Gott“, der Mutmacher und Protestsong nicht nur der damaligen Zeit.
10.06. – Dieses Lied bildet bekanntlich das Finale von Felix Mendelssohns „Reformationssinfonie“ (seine Fünfte in d-Moll), die Sir John Eliot Gardiner dezidiert als Hauptwerk für das Große Konzert im Gewandhaus Leipzig gewählt hat.
„Mendelssohn im Bachfest“ steht nicht ohne Grund auf dem Programm, hat doch die Stadt Leipzig die bisherigen Mendelssohn-Festtage im Herbst gestrichen. Gardiner zollt nun Mendelssohn – gemeinsam mit dem Gewandhausorchester, dem Gewandhauschor (einstudiert von Gregor Meyer) und seinem eigenen Monteverdi Choir – überzeugend Tribut.
An den Anfang setzt er jedoch ein Werk des fast gleichaltrigen Otto Nicolai (1810-1849), der halt nicht nur die Operette „Die lustigen Weiber von Windsor“, sondern auch eine pralle „Kirchliche Fest-Ouvertüre“ über „Ein feste Burg ist unser Gott“ komponierte. Nachdrücklich wird das gesungen, die Orgel tut das ihre, und machtvoll schmettern die Blechbläser.
Sir John Eliot Gardiner dirigiert das Grosse Concert im Gewandhaus, Foto Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Ebenso intensiv durchdacht erklingen die Psalmen Nr. 2, 43 und 22, die Mendelssohn 1843/44 – nun in preußischen Diensten – für den Berliner Domchor vertonte. Doch beim Choral „Verleih uns Frieden“ MWV A 11 gehen Mendelssohn und Gardiner behutsam ans Werk, lassen die Streicher aber schließlich voll aufblühen. Viel berührten Beifall für diese sehr zeitgemäße Bitte.
Dass Richard Wagner die Juden nicht mochte und daher auch nicht den christlich getauften Mendelssohn Bartholdy, ist bekannt. Dass er aber dessen Musik sehr wohl schätzte, lässt sich gleich danach beim Vorspiel zur Oper „Parsifal“ an einigen Stellen heraushören. Gardiner als Versöhner oder Wiedergutmacher bei der Aneinanderreihung dieser beiden Stücke? Insgesamt dirigiert er das Vorspiel entsprechend weihevoll und holt alle Schönheiten aus Wagners Partitur heraus. Auch das findet viel Applaus.
Nach der Pause Mendelssohns schon erwähnte „Reformationssinfonie“. Bei ihrem 2. Satz habe ich ins Programmheft geschrieben: „Das klingt wie Parsifal.“ So sehr ist mir das noch nie aufgefallen. Hierbei bringt sich Gardiner voll ein. Am Herzen liegt ihm aber auch Brahms’ „Geistliches Lied“ op. 30, bettet er es doch in eine von ihm selbst erstellte Fassung für Chor und Orchester. Stille nach diesem „Nachtgebet“, gefolgt von tosendem Beifall und stehenden Ovationen.
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11.06. – Auch der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) als „Platzhirsch“, passt sich mit seinem Matineekonzert unter Leitung von Kristjan Järvi dem Bachfest an und startet mit Johann Sebastians „Chaconne aus der Partita II d-Moll“ BWV 1004, jedoch orchestriert von Arman Tigranyan (geb. 1979) und daher entsprechend fülliger. Das MDR Sinfonieorchester mit Konzertmeister Andras Hartmann lassen diese angereicherte Chaconne unter Järvis swingendem Dirigat überzeugend erklingen.
Kristjan Järvi, Foto MDR/ Peter Rigaud
Den Schluss bildet Rachmaninows Sinfonie Nr. 2 e-Moll Op. 27. Gekonnt zeigen Järvi und die Seinen auf, was alles in dem fast einstündigen Werk steckt: russische Klangfülle und Eleganz, Farbreichtum und Furor, Schwelgerisches, Tänzerisches und Aufrührerisches.
Dennoch ist es das stille Stück „Exiles“ von Max Richter (geb. 1966), das bei dieser deutschen Erstaufführung wohl rein zufällig an Brahms’ „Geistliches Lied“ vom Vorabend anschließt.
Fast ständig wiederholt sich eine schlichte Melodie, gespielt von zwei Künstlern auf der Celesta und dem Xylophon. Sie lässt an Menschen in Wartestellung denken, wirkt wie ein Mantra, das aber keine Hoffnung beschwört. Nach langen Minuten ein kurzer Aufschwung, danach der erneute Rückfall ins Ungewisse, auf das nutzlose Warten auf Irgendwas.
Der tatkräftige Martin Luther wollte nicht warten. John Eliot Gardiner will es auch nicht und widmet sich, wiederum im Gewandhaus, dessen Reformationskantaten. Dennoch habe ich eine andere Wahl getroffen, schwierig genug bei den insgesamt 120 Veranstaltungen, die das Bachfest bis zum 18. Juni bietet.
John Butt, Dunedin Consort + Solisten, Foto Bachfest Leipzig/ www.malzkornfoto.de
Um 17 Uhr in der Nikolaikirche höre ich John Butt, vom Cembalo aus dirigierend, mit „Luther-Choräle in Kantaten“. Gemeinsam mit seinem Dunedin Consort stellt er mit der Kantate „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“ der Version von Dietrich Buxtehude die spätere von J.S. Bach gegenüber. Buxtehudes Stück ist durch den Tod des Vaters persönlicher gehalten und schlichter komponiert, Bachs Vertonung ist deutlich reichhaltiger. Das gilt auch für die drei weiteren Bach-Kantaten, darunter „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ und den Osterjubel, der sich in „Christ lag in Todesbann“ alsbald Bahn bricht.
Der reine Sopran von Joanne Lunn, von Beginn an präsent, strahlt dabei durch das Gotteshaus und findet in Thomas Hobbs (Tenor) den adäquaten Partner. Beim letzten Halleluja jubeln beide um die Wette. Matthew Brook (Bass) und Emile Renard (Alt) vervollständigen das Solisten-Quartett. Letztere, anfangs recht schwächlich in der Stimme, gewinnt in Verlauf an Wärme und Volumen.
Stets integrieren sich die Vier nach ihren Soli wieder in den Chor. Der und die Instrumentalisten, eine relativ kleine Schar, leisten Großartiges, überraschen das Publikum und werden schließlich zu Recht heftig gefeiert.
Doch 500 Jahre Reformation – basierend auf Luthers angeblichen Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg – ist nicht das einzige Jubiläum im Jahr 2017. Gedacht haben die Veranstalter auch an den 250. Todestag von Georg Philipp Telemann, das 400. Wiegenfest von Johann Rosenmüller und vor allem an den 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi.
Echt Telemann, Peterskirche, Leitung Fabian Enders, Foto Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Also abends in die Peterskirche zu „Echt Telemann“. Ein doppeldeutiger Titel, geht es dabei doch um wichtige Fragen: Was stammt tatsächlich von Telemann, damals Musikdirektor der Leipziger Neukirche, wo er erste kirchenmusikalische Werke komponierte? Und was hat eindeutig J.S. Bach zu Papier gebracht? Welche Telemann-Stücke hat er genutzt, und was wurde ihm dann fälschlicherweise zugeschrieben? Nach Bachs Wiederentdeckung durch Mendelssohn sank Telemanns Wertschätzung drastisch, und manches wurde lieber als ein Bach-Werk eingestuft.
Diese Schwierigkeiten erklären sich daraus, dass viele Werke nicht im Original, sondern nur in Abschriften vorhanden sind. Außerdem war es durchaus üblich, Stücke anderer weiter zu verwenden. Davon gab es bei Telemann, Bachs Freund, reichlich. 1.600 Kantaten komponierte der Langlebige, mehr als 1.300 sind erhalten.
Wie dem auch sei – unter der temperamentvollen Leitung von Fabian Enders wird der Kantatenjahrgang 1724/25 von J. S. Bach/G. P. Telemann zur erfreulichen Überraschung, zumal alles mit recht viel Aufwand dargeboten sowie mit Verve gesungen und musiziert wird. In Aktion treten: Julia Sophie Wagner (Sopran), Annette Markert (Alt), Stephan Scherpe (Tenor), Dirk Schmidt (Bass), Lars Conrad (Bass), Sächsischer Kammerchor, ThomanerNachwuchsChor, KammerChor der Anna-Magdalena-Bach-Schule, Leipziger Barockorchester.
Und das fast Allerbeste – keine Menschenmassen sind in die etwas abgelegene Peterskirche gekommen, und so sitzen alle direkt vor und neben diesen engagierten Musikmachern, von denen einige wahrscheinlich (noch) keine Profis sind. Leipzig mit seinen hochkarätigen Ausbildungsstätten ist auch „ein feste Burg“ für die Musik, insbesondere für stilsicheren Barock, was hier mal wieder bewiesen und mit kräftigem Applaus quittiert wird.
12.06. – An diesem Abend in der Nikolaikirche kommt mit „ROSENMÜLLER 400“ ein heutzutage Verkannter, im Ausland weitgehend Unbekannter mit „viel schöne Italienische Musicalische Kunststücke uf den teutschen Boden“ zu seinem Recht. Veranstaltet wird ein Festkonzert zum 400. Geburtstag Johann Rosenmüllers (1617-1684).
Rosenmüller 400, Nikolaikirche, Leitung Gregor Meyer, Foto Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Zum Theologiestudium war der junge Mann aus Oelsnitz im Vogtland nach Leipzig gekommen und kam wohl erst als Hilfslehrer an der Thomasschule mit der Musik in Kontakt. Seine Begabung zeigte sich schnell, Heinrich Schütz wurde sein Mentor, und bald interessierte sich Rosenmüller für die italienischen Concerto-Kenntnisse, die Schütz von seiner zweiten Venedig-Reise mitgebracht hatte. Also reiste auch er 1645 nach Venedig und studierte dort vor allem den späten Madrigalstil des berühmten Claudio Monteverdi (1567-1643).
Das Gelernte machte sich Rosenmüller schnell zu Nutze, kometenhaft war daheim sein Aufstieg. Allerdings musste er, angeschuldigt wegen Päderastie, Leipzig 1655 fluchtartig verlassen, lebte dann rd. 25 Jahre in Venedig und kehrte erst 1682 nach Deutschland zurück. Als Kapellmeister in Wolfenbüttel.
Diesem schillernden Musikgenie nehmen sich nun das Ensemble 1684 unter Leitung von Gregor Meyer erfolgreich an. Die Soli singen Monika Mauch und Viola Blache (Sopran), David Erler (Altus), Tobias Hunger und Florian Sievers (Tenor) sowie Felix Schwandtke (Bass). Die junge Bernadett Mészáros an der Orgel gibt mit einem Lächeln im Gesicht und selber swingend den Rhythmus vor für Rosenmüllers lebendige, farbstarke Kompositionen. Spannend ist das und sollte keine Eintagsfliege bleiben. Die Zuhörern/innen belohnen dieses Hörerlebnis mit lang anhaltendem Beifall.
13.06. – „MONTEVERDI 450“ – L’ORFEO” als Sternstunde
Nun endlich Monteverdi und seine Oper L’ORFEO” unter der Leitung des spanischen Barockexperten Jordi Savall, der sich seit mehr als 50 Jahren auch intensiv um vergessene Schätze aus dem iberischen und mediterranen Raum kümmert.
Monteverdi 450, L’Orfeo, Leitung Jordi Savall, Gewandhaus, Foto Bachfest Leipzig/ Gert Mothes
Der L’Orfeo ist zum Glück nicht vergessen, doch Jordi Savall macht diese Aufführung – gemeinsam mit La Capella Real de Catalunya und Le Concert des Nations sowie fabelhaften Sängerinnen und Sängern zu einer Sternstunde.
Dass es eine konzertante Darbietung mit nur wenigen Stellungswechseln ist, stört nicht wirklich. Zu sehr nimmt Monteverdis Musik gefangen, die unter Savalls Händen ihren ganzen Einfallsreichtum und ihre Grandezza hören lässt. Wer jemals meinte, Barockopern seien langweilig, wird zumindest bei dieser Orfeo-Aufführung eines Besseren belehrt.
Der Chor, in dem die tiefen Männerstimmen den Gesamtklang bestimmen, flutet den großen Gewandhaussaal. Auch die relativ wenigen Instrumentalisten verschaffen sich nachdrücklich und rein tönend Gehör. Insgesamt wird hier auf spanische Art Attacke geritten. Auch die nicht aus Spanien stammenden Interpreten haben, obwohl italienisch gesungen wird, den spanischen Akzent in Stimme und Haltung.
Wie ein Torero kämpft Marc Mauillon (Bariton) für die Wiedererlangung seiner echt schönen, am Hochzeitstag durch einen Schlangenbiss verstorbenen Euridice (Lucía Martín-Cartón, Sopran, die eingangs auch La Musica singt). Und wenn schließlich durch sein Umdrehen im Hades die Geliebte endgültig verloren ist, müsste sein Gesang, der all’ seine Verzweiflung kundtut, jeden Stein erweichen. Atemlos lauscht das Publikum dieser packenden Meisterleistung.
Ansonsten sind es auch unter den Solisten die volumigen, fast tiefschwarzen Bässe von Antonio Abete und Iván García, die beeindrucken. Erfolgreich konkurrieren die Tenöre Fulvio Bettini, Lluís Vilamajó und Nicholas Mulroy sowie der Countertenor David Sagastume.
Bei den Damen verdient Sara Mingardo (Mezzo) als Messaggiera einen Sonderpreis, eine Unglücksbotin voller Empathie, die ihre Fassungslosigkeit über Euridices Schicksal ausdrucksstark kenntlich macht. Auch Marianne Beate Kielland (Mezzo) als Speranza fällt aus dem üblichen Rahmen. Die ist hier keine weichherzige Hoffnungsbringerin, die fordert Mut von Orfeo, der sich daraufhin (letztendlich vergeblich ) in die Unterwelt wagt. In den übrigen Frauenpartien überzeugen Adriana Fernández und Lise Viricel.
Zuletzt lang anhaltender Jubel für Savall und die Seinen. Der ist sichtlich beeindruckt von all’ der Begeisterung und feiert seinerseits intensiv seine Mitstreiter/Innen. – Die Marienvesper am 14. 06., geleitet von Raphaël Pichon, kann ich terminlich leider nicht mehr miterleben.
Vielleicht stellen sich nun manche Besucher die Frage, warum sich der Barockexperte John Eliot Gardiner mit seinem Monteverdi Choir (!) nicht selber dieser Werke annimmt. Doch der gibt Monteverdi auf andere Weise die Ehre. Ähnlich wie im Jahr 2000, als er – anlässlich von Bachs 250. Todestag – bei seiner Bach-Pilgerreise dessen sämtliche Kantaten landauf, landab aufführte, tut er es jetzt mit dem Geburtstagskind Monteverdi. Schon seit April tourt er mit den Seinen durch Europa und präsentiert neben dem Orfeo Die Heimkehr des Odysseus, Die Krönung der Poppea und die Marienvesper. So die deutschen Namen dieser Werke.
Schon am 16. Juni geht es mit dem Orfeo in Venedig weiter, am 24.06. beglückt Gardiner Monteverdis Geburtsort Cremona mit der (seit Monaten ausverkauften) Marienvesper. In den Monaten danach folgen Salzburg, Edinburgh, Luzern, Berlin, Wroclaw, Paris, Pisa und sogar Chicago und New York. Eine sicherlich anstrengende Tour, aber der Monteverdi-Geburtstag liegt Gardiner am Herzen.
Bach in Bronze vor der Thomaskirche, Foto Ursula Wiegand
Ebenso am Herzen liegt ihm ganz selbstverständlich das kommende Bachfest. Mit dem „Leipziger Kantaten-Ring 2018“ hat Gardiner, Präsident des Bach-Archivs Leipzig, bereits ein hauseigenes Großprojekt gestartet. 30 ausgewählte geistliche Kantaten Bachs werden vom 08.-10. Juni 2018 in zehn Konzerten in Bachs Leipziger Kirchen zyklisch aufgeführt. Es musizieren die führenden Bach-Interpreten und deren Ensembles: John Eliot Gardiner, Ton Koopman, Hans-Christoph Rademann, Thomaskantor Gotthold Schwarz und Masaaki Suzuki.
Lust darauf macht ein Trailer mit dem Link: www.bachfestleipzig.de/de/bachfest/der-leipziger-kantaten-ring-das-bach-ereignis-2018
Zunächst werden alle 30 Konzerte nur als Gesamtpaket zu Preisen von 100 – 500 Euro verkauft, was rd. 30 % Rabatt gegenüber dem Einzelticketkauf bedeutet. Der Vorverkauf hat gerade begonnen. Buchung auch online unter www.bachfestleipzig.de.
Ursula Wiegand