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Koloratursopranistin Rita Streich (1920-1987): Eine Würdigung zum 100. Geburtstag am 18. Dezember 2020

Dezember 2020 (Dr. Claudia Behn)

16.12.2020 | Feuilleton

Koloratursopranistin Rita Streich (1920-1987): Eine Würdigung zum 100. Geburtstag am 18. Dezember 2020

1. Foto, Rita Streich 01 Foto Fayer
Rita Streich (© Fayer / Privatarchiv Franklin Berger)

Rita Streichs sehr helle, warme, schwerelose Koloraturstimme mit einem unverkennbar eigenen Timbre, fundiert auf sicherer Gesangstechnik, perfekter Artikulation, großer Leichtigkeit und imposantem Vibrato, gestochen perlenden Koloraturen, fügte sich zu ihrer ungeheuren Ausstrahlungskraft und einer Darstellungskunst, die sich vor allem auf das Freche und Kecke fokussierte.

Geboren am 18. Dezember 1920 im russischen Barnaul, als Tochter musikbegeisterter und sangesfreudiger Eltern, – einer russischen Mutter und eines deutschen Vaters, der als Kriegsgefangener nach Russland gekommen war –, kam bereits vor Vollendung des ersten Lebensjahres, 1921, nach Deutschland. Ihre Kinderjahre verbrachte sie in Essen (1921–1930), wo sie im Alter von vier Jahren erste Bühnenerfahrungen auf einer Kinderweihnachtsfeier mit dem Lied „Der Kuckuck und der Piedewitt“ sammelte. 1930 zog die Familie ins thüringische Jena, dort besuchte Rita Streich das Lyzeum und Reformrealgymnasium in der Kaiser–Wilhelm–Straße 1, wo ihre Klassenkameradinnen auf ihre schöne Stimme aufmerksam wurden und sie in den Pausen zu Gesangsdarbietungen aufforderten. Nicht nur die Mitschülerinnen, auch ihre Klavierlehrerin Elisabeth Bran (geb. 1906) wurde auf die begabte Jungsängerin aufmerksam und stellte sie der Sopranistin Paula Klötzer (geb. 1904 in Hermsdorf bei Jena) vor, – einer ehemaligen Schülerin der bekannten Koloratursopranistin und erfolgreichen Gesangspädagogin Maria Ivogün –, die als Ensemblemitglied am Augsburger Stadttheater wirkte.

Nach Ende ihrer Schulzeit machte sich Rita Streich 1938 auf den Weg nach Augsburg zu Paula Klötzer, wo sie bis 1940, als Klötzer nach Hamburg verzog, Gesangsunterricht nahm. 1940 kam Rita Streich nach Berlin in die Opern– und Gesangsschule von Bariton Waldemar Staegemann (1897–1958), die sie 1942 mit der Bühnenreifeprüfung vor der Reichstheaterkammer mit Auszeichnung abschloss. Gleich im Anschluss bekam Rita Streich ein Engagement in der Provinz, am Stadttheater in Aussig (heute Usti nad Labem in Tschechien), als Koloratursoubrette und 1. Koloratursopran, das die Kriegswirren 1944 beendete. Wieder war es Berlin, wo sie Zuflucht fand. Mit Koloratursopranistin Erna Berger (1900–1990), die Rita Streich schon vorher sehr verehrt hatte, ging sie von 1942 bis 1951 (unterbrochen vom Aussiger Engagement) ans Partien–Studium, was sie, nachdem Berger ihre Gastspielreisen wiederaufgenommen hatte, bei Maria Ivogün (1891–1987) von 1951 bis 1955 weiterführen konnte.

Erna Berger war es auch, die Rita Streich zu einem ersten Engagement 1945 an der Berliner Staatsoper verhalf, der sie bis 1952 die Treue hielt. Berlin wurde zum Sprungbrett für Rita Streichs Karriere. Die Nachkriegsjahre waren eine Zeit des Aufbruchs und wurden zur Chance für viele junge begabte Sängerinnen und Sänger wie Rita Streich. Sie hatte die Möglichkeit mit den Großen des Opernfachs zu musizieren, so auch mit Willi Domgraf–Fassbaender (1897–1978), der ihr Privatstunden gab. Ihre erste Premiere an der Berliner Staatsoper war am 10. April 1949 die Olympia in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“. Dort sang sie kleine und größere Partien wie den Pagen in Verdis „Rigoletto“, Taumännchen und Gretel in Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Blondchen in Mozarts „Entführung aus dem Serail“, den 1. Knaben in Mozarts „Zauberflöte“, Chloe in Tschaikowsky „Pique Dame“, Zerlina in Mozarts „Don Giovanni“, Zerbinetta in Strauss` „Ariadne auf Naxos“, das Blumenmädchen in Wagners „Parsifal“, Adina in Donizettis „L’elisir d’amore“, Eros in „Orpheus und Eurydike“, die Nuri in d`Alberts „Tiefland“, die Base in Puccinis „Madame Butterfly“, Gilda in Verdis „Rigoletto“ und Sophie im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss.

Nach ihrer Heirat 1949 mit dem damaligen Regieassistenten Hans Dietrich Berger (1920–1980) und der Geburt ihres einzigen Kindes, das die Namen Franklin Antonio Gerd erhielt, war sie hin– und hergerissen zwischen der Vereinbarung von Familie und Gesangskarriere.

Gastspiele an der Komischen Oper Berlin (1950–52) als Olivia in Kusterers „Was ihr wollt“ und als Rosina in Rossinis „Barbier von Sevilla“, an der Städtischen Oper Berlin (1950–51) als Blondchen, Pepi in „Wiener Blut“, Zerbinetta, Gilda, Yvette in „Leonore 40/45“ nach Liebermann, Königin der Nacht, Olympia, Fiakermilli in „Arabella“ von Richard Strauss, Norina in Donizettis „Don Pasquale“, als Susanna, Rosina und Sophie sowie am Berliner Schillertheater (1952) als Elfen–Soli in Mendelssohn Bartholdys „Sommernachtstraum“, umschließen ihren Berliner Wirkungskreis. Rita Streich war im Rückblick sehr dankbar für ihre Berliner Anfängerzeit: „Ich muß es heute wirklich sagen, die Zeit war richtig. Ich war in der richtigen Umgebung. Und alles Schwere dieser Zeit hab` ich überhaupt gar nicht empfunden, was das Glück, mit den großen Sängern zu arbeiten, alles überstrahlte. Das  war ein Schicksal, für das man dankbar sein kann“ (Quelle: „Nicht nur Tenöre“, S. 164f.).

Nach Gastspielen an der Wiener Staatsoper (1953–55) wurde die „Wiener Nachtigall“, wie sie alsbald liebevoll genannt wurde, 1956 bis 1972/73 festes Ensemblemitglied und Teil des legendären Mozartensembles,– übrigens war Mozart ihr Lieblingskomponist und besonders geeignet für ihre Stimme –, und sang über 20 Partien. Neu hinzu kamen die Papagena in Mozarts „Zauberflöte“, Giroflé–Girofla in der gleichnamigen Oper von Lecocq, Despina in Mozarts „Cosi fan tutte“, Oscar in Verdis „Un ballo in maschera“, die 3. Engelsstimme in Pfitzners „Palestrina“, italienische Sängerin in Strauss` „Capriccio“ und 1. Magd in „Daphne“ sowie der Hirt in Wagners „Tannhäuser“.

Gastspiele in aller Welt schlossen sich an, so beispielsweise an der Mailänder Scala, dem Teatro dell`Opera di Roma, der Lyric Opera Chicago, dem Teatro Felice in Neapel, am Londoner Covent Garden, am Teatro Colón in Brüssel, den Staatsopern von Hamburg und München sowie in Paris. Hinzu kam eine umfangreiche Festspieltätigkeit bei den Wiener Festwochen, den Bregenzer Festspielen, dem Bach–Festival in Oxford, Bergen–Festival, Holland– und Flandern–Festival, den Festspielen von Glyndebourne (1958 als Zerbinetta), Festspiele in Aix–en–Provence sowie bei den Bayreuther Festspielen 1952 als Waldvogel in Wagners „Siegfried“ und als Erste Blume in „Parsifal“ und 1954–1967 bei den Salzburger Festspielen (Debüt 1954 als Ännchen in Webers „Freischütz“ unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler, in einer Inszenierung von Günther Rennert, den sie schon aus Berlin kannte). Furtwängler äußerte über Rita Streich begeistert: „Ich bin nicht mehr der Jüngste […] und ich bin sehr glücklich, daß ich in einer so späten Stunde meines Lebens noch diese Stimme hören konnte“ (Quelle: Personendossier Rita Streich, in: Akademie der Künste Berlin). In Bayreuth wurde Herbert von Karajan auf sie aufmerksam und brachte sie erstmals ins Ausland zur Musica Sacra in Perugia. Tourneen durch Australien, Neuseeland, Südafrika, die USA und Kanada sowie Japan (erstmals 1959 mit Klavierbegleiter Erik Werba) waren die Folge. In Japan und Frankreich errang sie größte Beliebtheit.

Die Kunstlied– und Volksliedpflege lag Rita Streich sehr am Herzen und so gab sie Liederabende mit Werken von Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Hugo Wolf, Richard Strauss, Edward Grieg, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Modest Mussorgsky, Sergej Prokofjew, Igor Strawinsky, Domenico Scarlatti und originalsprachlichen Volksliedern. Mitte der 1970er Jahre nahm Rita Streich Abschied von der Opernbühne, gab aber noch bis 1986 Liederabende und absolvierte Konzertauftritte.

Rita Streichs kleine Stimme eignete sich sehr für Aufnahmen. Zahlreiche Schallplatteneinspielungen wie Operngesamtaufnahmen, Arienplatten und Liederplatten bei der Deutschen Grammophon, EMI, Pathé und anderen, begründeten ihre große Bekanntheit und tragen Rita Streichs große Gesangskunst bis in die Gegenwart.

Viele Auszeichnungen stellten sich ein, so 1969 der Kammersängertitel, 1971 das Deutsche Bundesverdienstkreuz erster Klasse, die Madame Le Commandeur des Arts et lettres in Paris und zahlreiche Schallplattenpreise.

Diese glanzvolle Karriere warf aber auch private Schatten voraus: „Das Rumreisen für einen Sänger […], das hängt so viel mit Verzicht und nicht genug Familienleben und kleines Kind alleine zu Hause zurücklassen und so viel Opfer zusammen, dass man sich manchmal fragt, um Gottes Willen, […], muss das so sein, aber glauben Sie mir, dass ich in meinem Leben sehr viel, was ich gar nicht mag, Einsamkeit kennengelernt habe. Wir leben dann im Hotelzimmer und es wird alles auf die Vorstellung oder auf die Konzerttournee […] vorbereitet, das ist also eine Schwerstarbeit, und die paar Stunden hinterher oder die kurze Zeit hinterher nach einem Abend, das ist eigentlich im Grunde genommen eine sehr kurze, aber sehr intensive freudige Zeit, wo man dann sagt, so, oder man hat das Gefühl, ich habe das beste gemacht, was ich konnte“ (Zitat aus der Sendung „Opernwerkstatt, in: Mittagsjournal vom 20. März 1987).

Nach Ende der Gesangslaufbahn wurde sie ordentliche Professorin für Stimmbildung an der Folkwang–Hochschule in Essen (1974–1987), der Wiener Universität für Musik und  darstellende Kunst (1975–1987) und am Pariser Konservatorium. Sie leitete von 1983 bis 1987 das Centre du Perfectionnement d`Art in Marseille und gab weltweite Meisterkurse wie ab 1983 in Salzburg. Eine gute, ausgeglichene, geduldige Gesangspädagogin, die auf jeden Schüler emphatisch eingehen kann und sie individuell zu stärken und zu formen versucht, scheint Rita Streich, befragt man ihre zahlreichen Gesangsschülerinnen, kaum gewesen zu sein.

Diese zierliche, vor Energie sprühende, damenhafte und temperamentvolle Frau, voll natürlicher Heiterkeit, gestaltete ihre Partien und Lieder mit großem Einfühlungsvermögen, gestalterischer Intelligenz, schauspielerischer Spontanität in ungeheurer Bühnenpräsenz und Sinn für Wirkungen. Mit zunehmendem Alter litt Rita Streich an Versagensängsten und unter den Spätfolgen ihrer Karriere wie großer Einsamkeit und darunter, dass sie zunehmend beim Publikum in Vergessenheit geriet. Rita Streich starb am 20. März 1987 nach langer schwerer Krankheit in Folge eines Hirntumors und wurde im Grab ihrer Eltern auf dem Ortsfriedhof Perchtoldsdorf beigesetzt.

2. Foto, Rita Streich 02 Foto Fayer
Rita Streich (© Fayer / Privatarchiv Franklin Berger)

Ihren Nachlass im Umfang von 23 Umzugskartons und 31 kleinen Kartons mit Korrespondenz, Briefen, Kritiken, Programmen, Notenmappen, Büchern, Fotos und Notenblättern erhielt die Folkwang–Hochschule Essen 2008 als Schenkung von ihrem Sohn Franklin Berger zuerkannt, doch dort verschwand der komplette Nachlass auf unerklärliche, bis heute nicht aufgeklärte Weise.

Wer Rita Streichs Gesangskunst nicht kennt oder seine Erlebnisse auffrischen möchte, für diesen bieten sich besonders die beiden CD–Kollektionen: „Rita Streich. Königin der Koloratur“ (10 CDs) von Intense Media oder „Rita Streich. The viennese Nightingale. Original Masters“ der Deutschen Grammophon“ (8 CDs) zum eindrucksvollen Hören und Genießen an. Denn wie schrieb Rüdiger Winter so wahr: „Überforderungen oder Schwachstellen technischer Natur dürfte auch derjenige schwerlich finden, der sie sucht. Rita Streich folgte dem inneren Triebe, nur das zu singen, was sie singen konnte. Grenzen hat sie nicht überschritten“ (Quelle:  http://operalounge.de/cd/recitals-lieder/18-stunden-rita-streich )

Eine fantastische Künstlerin, die es lohnt zu entdecken, die nicht vergessen werden sollte.

Dr. Claudia Behn

 

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