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KÖLN: SOLARIS von Detlev Glanert

13.11.2014 | Oper

KÖLN: SOLARIS (Detlev Glanert) am 12.11. 2014 (Werner Häußner)

Spannende Zeiten in Köln. Während etwa in Düsseldorf an der Deutschen Oper am Rhein eine sichere Nummer nach der anderen abgearbeitet wird, zeigt der Opern-Herbst in der Domstadt, wie erfindungsreich Repertoirepolitik sein kann: Auf Johann Adolph Hasses in Schwetzingen wieder ausgegrabener Oper „Leucippo“ folgte nun die deutsche Erstaufführung von „Solaris“, mittlerweile die dritte in Köln gespielt Oper Detlev Glanerts. Bleibt Intendantin Brigit Meyer bei diesem Kurs, wird einem um die künftige Vielfalt im nächsten Jahr frisch renovierten Haus am Offenbachplatz nicht bange.

„Solaris“ nach einem erfolgreichen Roman des polnischen Autors Stanislaw Lem wurde 2012 in Bregenz uraufgeführt. Die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier sollte an die Komische Oper Berlin übernommen werden, was – laut Glanerts Aussage in einem Interview – ohne Nennung von Gründen unterblieb. Man kann sich vorstellen, dass die illustrative, an Raumschiff-Enterprise-Ästhetik gemahnende Bilderfindung des Duos bei Barrie Kosky keine Gegenliebe entzündete: Er kündigte für 2015/16 eine eigene Neuinszenierung an.

Nun hat Köln zugegriffen und sich die deutsche Erstaufführung gesichert. Mit Patrick Kinmonth (Gesamtkonzept und Regie), Darico Petrovic (Bühne), Annina von Pfuel (Kostüme) und Andreas Grüter (Licht) wurde ein Team verpflichtet, das mit starken, differenziert ausgeleuchteten Bildern den Blick von der Science-Fiction-Oper weglenkt. Das entspricht der These, nach der Lems „Solaris“ weniger eine Reise in die unendlichen Weiten des Alls beabsichtigt, sondern tief ins Innere des Menschen mit seinen uneingestandenen Wünschen und seinen einsamen Verletzungen führt.

Die Raumstation über dem Forschungsobjekt, einem planetenumspannenden, rätselhaften Plasma-Ozean, steht auf stählernen Gitterträgern und zeigt mit zerbröselnd rostigem Stahlbeton das Stadium finalen Zerfalls. Ähnlich ruinös sind die Verhältnisse an Bord: Der Wissenschaftler Gibarian hat sich selbst getötet, sein Kollege Sartorius verschanzt sich in seinem Labor, der dritte, Snaut, irrt scheinbar halb wahnsinnig durch die Station.

Das Solaris-Plasmawesen liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher aus den Gehirnen heraus und lässt sie materialisiert als menschliche Wesen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin begegnet seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Lem und mit ihm Glanerts anfangs des Jahres verstorbener Librettist Reinhard Palm setzen den einsamen Ozean als Metapher absoluter Fremdheit ein. Es wird nicht einmal klar, ob die Plasma-Manifestationen, gebildet nach den Traumata der Forscher, Versuche der Kommunikation einer Intelligenz, spielerische Ausformungen eines kindlichen Wesens oder Schöpfungsversuche eines unvollkommenen Gottes sind. Aber am Beispiel von Kelvins Frau Harey erweist sich, dass sich die Wesen aus dem Plasma nach und nach von den Gedanken-Matrizen ihrer Verursacher emanzipieren, selbständig werden, eine eigene Persönlichkeit entwickeln.

Ein anderer, wichtigerer Aspekt von „Solaris“ ist der einer Selbsterkenntnis: „Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. So wird die Reise zu den Sternen zu einer Reise zu sich selbst. Dass Kelvin am Ende den Ozean aufsucht, spricht freilich dafür, dass der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch trotz allem das große „Andere“ sucht: Ohne Hoffnung, aber in Erwartung, und mit einem Glauben. Solaris als großes Gegenüber, das dem einsamen Einzelnen in der absoluten Verschiedenheit sich selbst offenbart. Vielleicht der „Gott“, den der Mensch – so meint Glanert – in aller Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums sucht?

Der Inszenierung Kinmonths fehlen bei aller szenischen Sorgfalt, bei aller Intensität, mit der er die Personen führt und charakterisiert, der Aspekt der Fremdheit und das Element der Überraschung. Die „Gäste“ schleichen sich unspektakulär ein, ohne dass ihre verstörende Präsenz spürbar wird. Der Chor, der den Ozean repräsentiert, agiert sichtbar in Alltagskleidern auf der wasserbedeckten Bühne, bewegt sich in fließenden, ritualartigen Choreografien: das Fremde bleibt unausgedeutet. Den Reiz des Geheimnisvollen, Uneindeutigen will Kinmonth allein mit der Interaktion der Personen gewinnen. Doch die Verweigerung der Metaphysik führt ins Alltägliche, Lems Kritik an einem platten Empirismus bliebt stumpf.

Umso faszinierender dringt Lothar Zagrosek in die Tiefenschichten von Glanerts Partitur vor. Mit dem erfahrenen Dirigenten am Pult vollbringt das Gürzenich-Orchester Wunder klanglicher Differenzierungen. Optimal auf die akustischen Verhältnisse des Opernzelts am Dom eingerichtet, werden die atmosphärischen Qualitäten von Glanerts Musik ausgeschöpft: das Spiel mit minimalen klanglichen Verschiebungen wie bei Ligeti, der Mut zum expressiven gesanglichen Bogen wie in der zeitgenössischen amerikanischen Oper, aber auch die Schärfe der Kontraste wie bei Glanerts Lehrer Henze. Die Disziplin der Musiker ist beispielhaft, die Klangentwicklung in jedem Moment beherrscht. Glanert bezieht sich auf musikalische Traditionen – etwa auf Wagners „Rheingold“ in dem emblematischen Viertonmotiv des Beginns und in seinen raunenden liegenden Akkorden –, verwendet vertraute Formen etwa in Final-Ensembles. Das wirkt in keinem Moment imitierend oder epigonal, sondern ist kreativ kraftvoll ins Heute transferiert.

Gesungen wird in Köln mit hohem Einsatz und ausgefeilter Charakterisierungskunst: Nikolay Borchev gestaltet einen Kris Kelvin zwischen Schock und Zärtlichkeit, Martin Koch gibt Snaut die Züge eines weisen Hysterikers, Bjarni Thor Kristinssons Bass versucht in klangüppiger Deklamation, die Reste seiner Wissenschaftler-Fassade zu sichern. Unter den „Gästen“ singt Qiulin Zhang mit strömendem Alt eine fast zu schöne, dann aber auch abgründig düstere Baboon – ein rätselhaftes Wesen, halb Frau, halb Äffin. Der Mutter Snauts, mit der er offenbar ein inzestuös fäkalophiles Verhältnis pflegte, gibt Dalia Schaechter schneidend-schmeichelnde Kommandotöne. Hanna Herfurtner fegt mit obszönen Sätzen als „Zwerg“ über die Szene – das Gespenst, das Sartorius peinigt. Und die tragende Rolle der Harey wird von Aoife Miskelly sehr zart, glaubwürdig und sensibel gestaltet – auch wenn das kopfige Stimmchen schon beim Orchester-Mezzoforte keine Chance mehr hat.

Glanerts Oper bietet noch einiges an Deutungspotenzial. Nach dieser gelungenen deutschen Erstaufführung steigt die Vorfreude auf die Berliner Produktion – und vielleicht weitere an anderen Häusern.

 

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