KÖLN (Philharmonie): THE INDIAN QUEEN (Purcell) Halbszenische Aufführung am 7.9.2016
Ein besonderes Glücksempfinden für empfindliche Hörer dürfte sein: Musik verklingt und das Publikum wagt nicht zu atmen, geschweige denn zu applaudieren. Irgendwann brandet Beifall natürlich auf, und das sollte nach einer außerordentlichen Aufführung auch so sein. Wie jetzt in Köln bei Henry Purcells „The Indian Queen“, dargeboten vom MUSICAETERNA CHOIR und -ORCHESTRA unter TEODOR CURRENTZIS. Gespannte Stille prägte übrigens schon zuvor über lange Strecken die dreieinhalb(!)stündige Aufführung.
Als einziges dramaturgisch stimmig durchgestaltetes Musikdrama aus der Feder Henry Purcells gilt „Dido and Aeneas“, das Werk eines Dreißigjährigen. Zu den sogenannten Semi-Opern, eine Mischung aus Musiknummern und Schauspieltexten (man könnte im Grunde von Dialogopern sprechen) gehören „King Arthur“, Fairy Queen“ und „Indian Queen“. Das letztgenannte Werk konnte Purcell nicht fertigstellen: er starb in seinem 36. Lebensjahr. Zwar gab es immer wieder pietätvolle Versuche einer Vervollständigung (die erste durch Purcells Bruder Daniel, 1661-1717), aber für Repertoirebeständigkeit reichte es nie. Ob sich das jetzt ändern wird? Großer Aufwand wurde immerhin betrieben.
Als der charismatische Dirigent Teodor Currentzis mit Peter Sellars an einem Strawinsky-Projekt arbeitete, kam die Sprache beiläufig auch auf „Indian Queen“, wobei sich herausstellte, dass dieses Werk schon lange ein Wunschobjekt des amerikanischen Regisseurs war. Nun ging man in die konkrete Planung. Zunächst war eine hieb- und stichfeste Bühnenfassung herzustellen, bei lediglich fünfzig Minuten Originalmusik. Ein heikles Unterfangen, zumal bei einer Monumentallänge, wie sie dann erreicht wurde. Der Begriff Pasticcio würde bei dieser Neufassung zu kurz greifen. Ob alleine Sellars für die Vervollständigung verantwortlich zeichnet, geben die greifbaren Informationen nicht her, auch nicht, ob/wie weit Currentzis in die erweiterte Partitur eingriff. Zitiert sei also das Kölner Programmheft: „Akt 5 (Masque) von Daniel Purcell. Libretto von John Dryden und Robert Howard – in einer neuen Fassung von Peter Sellars mit vertonten Texten von John Dryden, Katherine Philips, George Herbert u.a. und Sprechtexten aus dem Roman „The Lost Chronicles of Terra Firma“ von Rosario Aguilar“.
In der ursprünglichen Tragödie von Dryden/Howard geht es um historisch nicht ganz stichhaltige kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Inkas und Atzteken, darin eingewoben eine leicht exotische Liebesgeschichte. Durch den Roman der nicaraguanischen Schriftstellerin Rosario Aguilar (für Sellars war die Lektüre eine Initialzündung) enthielt die Handlung ein neues Umfeld, nämlich die Eroberung und Kolonialisierung Zentralamerikas durch die Spanier, ein blutiges, brutales Kapitel der Weltgeschichte. Das neue Libretto erzählt von der Maya-Prinzessin Teculihuatzin, die sich zur Katholikin Dona Luisa wandelt, nachdem sie sich unsterblich in den Conquistador Don Pedro de Alvarado verliebt hat. Ihm bleibt sie auch noch hörig, nachdem er sie verlassen hat. Ihre gemeinsame Tochter Leonor vermag sich in ihrer durch die Geburt vorgegebenen Identität nicht zurecht zu finden. Die Mayas kehren wieder zu ihren alten Ritualen zurück, müssen aber erkennen: „Es gibt hier unten nichts, dem man sich vertrauen kann.“ Immerhin finden die beiden Gattinnen von Don Pedro in Sympathie zueinander, die „offizielle“ Dona Isabel und die stürmisch eroberte Dona Luisa (eine nochmalige Heirat Don Pedros in Spanien wird angedeutet). Ein feministischer Lichtstrahl. Gleichwohl wird beiden Frauen Traurigkeit zum Lose.
Die Inszenierung der „Indian Queen“ durch Peter Sellars fand am Opernhaus im russischen Perm statt, wo Currentzis („Held am Rande Europas“ titulierte mal ein Magazin) seit einigen Jahren Musik und Theater zur ungeahnter Hochblüte geführt hat. Die Produktion ging dann auch an die English National Opera sowie an das Teatro Real Madrid. Von der Aufführung (2013) wurde eine DVD-Aufnahme gemacht, welche der Autor dieser Zeilen bis dato nicht kennt. Ein kurzer Ausschnitt bei Youtube zeigt allerdings, dass es sich um eine relativ statische Regieführung handelt, was aber vermutlich die einzig richtige Methode ist, denn trotz oder gerade wegen der Länge der Opernneufassung hält sich Aktion in Grenzen, die meisten Entfaltungsmöglichkeiten bieten sich durch reflektive Monologe (nur ganz wenige Ensembles), Orchesterintermezzi und nicht zuletzt ausgedehnte Chorpassagen. Insofern brachte die darstellerisch lediglich andeutende, aber stark mit Lichteffekten spielende Aufführung in der Philharmonie visuell wohl kaum Verlust. Die musikalische Darbietung war ohnehin eine Inszenierung für sich.
Dem Dirigenten Teodore Currentzis fährt Musik in all seine Glieder. Für ihn gibt es am Pult keinen Stillstand, die weit ausgreifenden, musikformenden Gesten sind ein choreografisches Erlebnis. Hin und wieder ein Stampfen mit den Füßen, auch mal der Griff zur Trommel, welche auch im Orchester eine stark klangatmosphärische Rolle spielt.
Überhaupt: Atmosphäre. Wie ist die akustische Suggestivkraft dieser Aufführung in Worte zu fassen? Mit seinem MusicAeterna Orchestra hat Currentzis erklärtermaßen die Prinzipien der historischen Aufführungspraxis im Sinn, aber Formung und Wölbung des Klanges, Rubati, Pausensetzung – das alles kennzeichnet den genuinen Romantiker. Wenn er das Spiel des Orchesters in einem fast unhörbaren Pianissimo ersterben lässt, glaubt man sich als Hörer auf einem anderen Stern. Ein hinreißendes, mit vielen Farbsoli aufwartendes Orchester also, welches übrigens im Stehen spielte. Fast noch hinreißender war der in Köln debütierende Chor, ein Vokalkollektiv von atemverschlagender Homogenität, artikulatorisch exzeptionell, beschwörend in seiner Klangräumlichkeit.
Die Aufführung wurde auch vom Solistenensemble außerordentlich suggestiv getragen, wenn auch nicht jeder Sänger in jedem Moment ideal war. Der junge amerikanische Counter RAY CHENEZ (Hunahpú) hatte mitunter leichte Schwierigkeiten mit der Höhenintonation, doch gefiel seine knabenhaft helle Stimme. Bei THOMAS COOLEY (Don Pedraria Dávila) galt es anfängliche Anstrengungen zu überhören, doch sehr bald überzeugte er mit weich fließendem Tenor, machte besonderen Eindruck im Duett mit seinem etwas rauhstimmigeren Fachkollegen JARRETT OTT (Don Pedro). WILLARD WHITE (70), zuletzt vor zwei Jahrzehnten in der Philharmonie zu Gast, bewies als Sacerdote Maya ungebrochene Baritonkraft. Gleichwertig in Stil und Ausdruck zeigten sich JOHANNA WINKEL (Isabel) und PAULA MURRIHY (Luisa), Letztere mit besonders leuchtender Höhe (obwohl eigentlich Mezzosopranistin) und zu Herzen gehendem Klageausdruck. Und schließlich CHRISTOPHE DUMAUX, ein Counter der absoluten Spitzenklasse, der sein relativ dunkles (und dadurch besonders erotisch wirkendes) Organ mit perfektem Legato und ohne Registerbrüche führte.
Christoph Zimmermann