Kent Nagano – Die Lektionen seines Lebens
Von Andrea Matzker und Dr. Egon Schlesinger
Kent Nagano. Foto: Andrea Matzker
Im Rahmen der lit.Cologne stellte der inzwischen 70-jährige Dirigent Kent Nagano sein Buch über die zehn wichtigsten Lektionen seines Lebens vor. In der Kölner Flora erzählte er allerdings zuerst, dass er Köln für die schönste und interessanteste Stadt der Welt halte. Köln sei eine sehr abenteuerliche Mischung. Als er damals das erste Mal im Dom Hotel residierte und dann den Karneval miterlebte, bekam er es allerdings mit der Angst zu tun…
Eine erste wichtige Erfahrung im Musikleben war seine Existenz als Assistent der Dirigentin Sarah Caldwell in Boston. Damals gab es noch nicht selbstverständlich Frauen am Dirigierpult. Sie war Bratschistin, so wie auch er, und wollte ihm direkt alles beibringen, was mit der Oper zu tun hat. So probten sie „Orpheus in der Unterwelt“ von Jacques Offenbach. Sie war eine sehr fordernde Lehrerin und verlangte eines Abends um 23:00 Uhr nach Probenschluss für den kommenden Morgen eine neue Arie, einige transponierte Partituren und ein Intermezzo in Offenbach’s Stil neu komponiert. Von Mitternacht bis 10:00 Uhr morgens schaffte er das Pensum, aber hatte leider in der Eile die Trompetenstimme in die falsche Tonart transponiert, was bei der Probe eine Katastrophe zur Folge hatte. Sie schmiss ihn kurzerhand und unverblümt hinaus. Recht geknickt besann er sich schon wieder darauf, Rechtsanwalt, Architekt oder Diplomat zu werden, als bereits am nächsten Tag Kollegen bei ihm anriefen und fragten, wo er denn bliebe. Madame Caldwell würde auf ihn warten. Also ging er wieder hin und wurde von ihr vorwurfsvoll, als sei nichts geschehen, begrüßt mit den Worten: „Sie sind aber spät!“ Seitdem hat er nie mehr versehentlich in eine falsche Tonart transponiert. Sagt Kent Nagano auf der Bühne der Flora und beugt sich von seinem lederbezogenen Metallstuhl, um auf dem Parkettboden auf Holz zu klopfen.
Kent Nagano. Foto: Andrea Matzker
Mit 34 Jahren gewann er ein Stipendium durfte und sich einen Professor aussuchen. Er versuchte sein Glück bei Leonard Bernstein und bekam die Audition. Er kam zu ihm nach Hause, musste erst einmal anderthalb Stunden warten und wurde dann in einen Saal geführt, in dem weder ein Flügel stand noch sich andere Instrumente befanden. Bernstein sagte einfach zu ihm: „Dirigieren Sie!“ Nagano war völlig perplex, denn er wusste nicht, wie und was. Er solle einfach etwas dirigieren, und Bernstein würde schon erraten, was es sei. Also erfolgte die erste Probe stumm, nur rein visuell. Nagano begann, die vierte Symphonie von Brahms zu dirigieren. Bernstein verstand es nicht, aber Nagano durfte trotzdem bleiben und bei ihm studieren.
Leonard Bernstein war nicht nur ein Professor, sondern auch ein väterlicher Freund. Nagano konnte mit allem zu ihm kommen. Einmal handelte es sich um die persönliche Frage, ob er denn heiraten solle. Nach genauer Überlegung meinte Bernstein: Wenn du ein großer Künstler werden willst, solltest du heiraten und Kinder haben. Denn so wird man seinen Egoismus los und gewinnt wieder Demut. Wenn man nicht verheiratet ist, könne man zwar ein begabter und guter Dirigent sein, aber nie ein großer Dirigent werden. Seit 1991 ist Nagano mit der japanischen Pianistin Mari Kodama verheiratet, mit der er gemeinsam eine Tochter hat, die ebenfalls Pianistin und Architektin ist.
Für Kent Nagano sind Bildung und musikalische Erziehung extrem wichtig, also legt er Wert auf „education“. Ihn bedrückt sehr, dass man damals ein Kind oder einen Erwachsenen fragte: „Magst du Mozart?“ Dann bekam man zur Antwort ein „Ja“ oder ein „Nein“. Heute lautet die Antwort: „Wer ist Mozart?“ Diese mangelnde Bindung zu Qualität und Kunst macht ihn sehr traurig. Er empfindet es als Tragödie. In diesem Zusammenhang erzählte er auch die Episode von „Beethoven 2“, in der zwei unterschiedliche Personen stundenlang über ein Thema redeten, aber unterschiedliche Dinge meinten. Der eine meinte „die Zweite (Symphonie) von Beethoven“, und der andere meinte (den Film) „Beethoven 2“ mit einem Hund.
Der gebürtige Kalifornier Kent Nagano, der in seiner Freizeit besonders viel und gerne liest, lebt abwechselnd in Paris, San Francisco und Hamburg. Zur Zeit arbeitet er in Hamburg am Tannhäuser und an der Pariser Oper an Bernsteins letzter Oper „A Quiet Place“, die er hier in der Originalform des Einakters von anderthalb Stunden aufführen wird, und die dadurch zum ersten Mal wirklich verstanden werden kann. Da Bernstein selbst dreimal Schiffbruch damit erlebte, ist Kent Nagano überzeugt davon, dass Bernstein sehr glücklich über die Aufführung dieser Version wäre. In Zukunft hat der Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg auch eine Zusammenarbeit mit Concerto Köln vor, auf die er sich schon sehr freut. Er ist nämlich Ehrendirigent des Orchesters. Dazu sagt er lächelnd: „Wir machen Pläne…“