KOBLENZ: DIE ZAUBERFLÖTE – Premiere
26.9. 2021 (Werner Häußner)
Ein Charakteristikum großer Kunst ist, offen für mannigfache Deutungen zu sein. So gesehen, ist Mozarts „Zauberflöte“ allergrößte Kunst. Regisseurin Mascha Pörzgen hat sich in ihrer Inszenierung in Koblenz dafür entschieden, Pamina einen Albtraum erleiden zu lassen. Schon in der Ouvertüre wälzt sie sich unruhig auf einer streng reduzierten schrägen Liegefläche. Sie erweist sich im Laufe der Handlung als ein Podium, das eng mit den Prüfungen verbunden ist, die auf die entführte Tochter der sternflammenden Königin zukommen. Auch der zweite Prüfling, der „Prinz“ Tamino, wird zu Beginn des zweiten Aktes eine solche Erhebung betreten.
Es ist eine düstere Halbwelt, in der Ausstatter Frank Fellmann die „Zauberflöte“ ansiedelt. Versetzbare Wände öffnen oder schließen Blickachsen und Räume. Sie dienen als Projektionsflächen, mal für flimmernde Farbfelder, mal für symbolisch aufgeladene Videos: In Sarastros Reich etwa huschen schwarze Nager über die Flächen. Oder es zeigen sich die Fassaden des Weisheitstempels und ägyptische Symbole, die an literarische Stränge des „Zauberflöten“-Stoffes erinnern.
Die Strahlen der Sonne erwartet man vergebens. Die Priester Sarastros tragen hohe Kopfbedeckungen, die mal wie die priesterlichen Goldhüte der Bronzezeit schimmern, mal in kaltem Silber glänzen, als seien sie Aluhüte von Verschwörungstheoretikern. Das Reich der Königin der Nacht dagegen ist von unheimlichen Vögeln besetzt, von denen einer sogar auf der Hand des bunten Papagenos thront. Hin und wieder, wenn sie die Wärme der Liebe erleuchtet, werden diese Vögel hell und bunt – ein tröstliches Zeichen in der grauschwarzen, bedrückenden Traumwelt. Die ist auch durch die Kostüme markiert. Mal mehr, mal weniger gelungen, streifen sie Historie, Fantasie und Gegenwart, unsystematisch, ephemer, zufällig – wie ein Traum eben so ist.
Mascha Pörzgens Hand quetscht aus den Figuren keine bedeutungsschwangere Symbolik, belässt sie aber auch nicht im Spiel einer netten Unverbindlichkeit. Eine sichere Bank für heiter-souveränes Auftreten hat sie mit Christoph Plessers, der seinen Papageno mit gelben kurzen Hosen und Haaren in Rezo-Blau mit einem etwas kehligem Stimmsitz, aber erfrischender Wendigkeit vom himmlischen Weingenuss bis zur abgründigen Selbstmorddrohung stolpern lässt. Und der aus der dick vermummten Ana Carolina Coutinho dann doch seine hübsche Papagena auspackt.
Von einer Kreuzung aus Saurier und Kaulquappe in die Ohnmacht befördert, erhebt sich Stefan Cifolelli als Prinz in seltsamer, japanisch anmutender Rüstung zum würdevollen Rettungsbringer des bezaubernden Mädchens, das er auf einem Porträt sehr ansprechend artikulierend, sicher in Atem und Phrasierung, aber ein wenig kühl in der Emotion besingt. Pörzgen zeigt in der Anlage der Figur die Passivität, sogar Introvertiertheit. Tamino verfehlt ja sein Ziel, das der findige Papageno sogleich ausgemacht hat: „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ singt der Vogelfänger, nicht der Prinz, gemeinsam mit der geraubten Schönheit. Nienke Ottens lässt spüren, wie schwer die Gesangspartie der Pamina ist, aber sie bewältigt Duett und Arie hochanständig und ohne vokale Blößen.
Bei Sarastro und der Königin der Nacht wird dann deutlich, dass diese Figuren eher für Prinzipien als für psychologisch erfassbare Charaktere stehen. Auf Sarastros goldbesticktem Wams prangen erhabene Worte wie Weisheit, Großmut, Freiheit, Schönheit, und es ist ein Verdienst Pörzgens, diese Prinzipien durch die Anlage der Figur nicht zu desavouieren. Jongmin Lim singt mit Balsam und sicherer Tiefe, im Tempo einer natürlichen Sprache und nicht einem möglichen Pathos angepasst.
Die Königin der Nacht entfaltet sich aus einem riesigen, maskenartigen Phänomen, als sei ihre menschliche Gestalt nur eine Erscheinungsform von etwas naturhaft Unheimlichem, das sich für die gemeinen Sterblichen einen Körper zulegt. Hana Lees Stimme bleibt im Zentrum eng, aber die Pfeiftöne in den Koloraturenketten sitzen ohne Makel. Den drei Damen war in der Premiere kein Glück beschert: Theresa Dittmar und Anne Catherine Wagner mussten mit ihrer durch Krankheit verstummten Zweiten Dame (Haruna Yamazaki) auf der Bühne agieren, während der Gesangspart so präzis wie möglich von Danielle Rohr von der Seitenloge beigesteuert und die Dialogtexte von Mascha Pörzgen aus dem Off gesprochen wurden.
Elegant umschifft hat man in Koblenz den mittlerweile zum Problem angewachsenen „Mohren“ Monostatos. Junho Lee tritt als Ratte auf, aber nicht in der putzig-rosigen Version, die Hans Neuenfels in Bayreuth 2010 für seinen „Lohengrin“ erdachte, sondern als ein – da haben wir’s wieder – unheimliches schwarzes Tier mit stechenden Augen. Entsprechend klagt Pamina bei Sarastro, die „böse Maus verlangte Liebe“. Für die dunkle Seite an Sarastros Reich mag das eine treffende Chiffre sein. Doch das fühlende Wesen, das dem unseligen Diener der weisen (und weißen!) Männer von Mozarts Musik mitgegeben wird, mag man der Ratte nur schwerlich zugestehen. Ein gewiss origineller Einfall, aber auch ein Zeichen dafür, wie sich das Theater anpassen muss, um im intellektuellen Mainstream schön „woke“ zu sein.
Am Ende wollen sich die Geprüften nicht in die alten Verhältnisse eingliedern und in Sarastros Tempel eingehen. Ein Versöhnungsversuch Paminas scheitert: Ihre Mutter schlägt die Hand ihres männlichen Widerparts aus. Da lockt das Leben auch ohne die „Freuden der Eingeweihten“ und das junge Paar folgt Papageno und Papagena ins Unbekannte.
Vor allem Gutes ist noch von der Rheinischen Philharmonie und dem Dirigenten des Abends, Mino Marani zu berichten: Sie sorgten für einen ausgewogenen Mozart-Klang, präzise Streicherfiguren und warm leuchtende Holzbläser. Marani wählt zügige Tempi, die manchmal dazu neigen, metrische Mechanik vor sprechend flexible Phrasierung zu stellen, insgesamt aber dem natürlichen Fluss der Sprache und einem organischen rhythmischen Puls nahe stehen.
Werner Häußner