9.2.2023: HIOB von Bernhard Lang (Uraufführung) – Stadttheater Klagenfurt
Es ist eine der größten und tiefsten Frage des Menschen an seine Existenz: warum das Leid? Schon die alten Hochkulturen haben sich in weisheitlichen Erzählungen mit ihr auseinandergesetzt, nachdem die einfache Formel „Es ergeht dir so, wie du selbst dich auch verhältst“ in ihrer Unverhältnismäßigkeit entlarvt war. In der hebräischen Bibel fand das Ringen um den Sinn des unverschuldeten Leids seinen Niederschlag in der Geschichte vom frommen Hiob, einer Legende aus dem 3. Jh. v. Chr., die der anonyme Erzähler im sagenhaften Ninive spielen lässt. In seinem gleichnamigen, 1930 erschienenen Roman greift der altösterreichische Schriftsteller Joseph Roth die Thematik erneut auf und setzt dabei dem russischen Judentum in Gestalt des Tora-Lehrers Mendel Singer und seiner Familie kurz vor und während des ersten Weltkriegs ein erschütterndes Denkmal. Dessen Schicksal ist nun im Rahmen einer (bereits unter der Intendanz von Florian Scholz initiierten) Auftragsarbeit für das Stadttheater Klagenfurt Gegenstand einer Oper von Bernhard Lang (Musik) und Michael Sturminger (Libretto), die dieser Tage unter – so viel sei gleich einmal vorweggenommen – frenetischem Beifall des Publikums uraufgeführt wurde.
Dabei haben die beiden Schöpfer des Werks (einem gemeinsamen Interview im Programmheft ist zu entnehmen, dass Autor und Komponist auf die Arbeit des jeweils anderen durchaus Einfluss genommen haben) die Romanvorlage auf gute anderthalb Stunden Spielzeit netto gestrafft. Ein wesentlicher Aspekt, der für sie dabei leitend war (auch dies ist in Interviews vorab zur Sprache gekommen), bestand in ihrem tendenziell atheistischen Blick auf die Geschichte, einem Blick, der heutzutage natürlich den common sense auf seiner Seite hat. Wobei aber trotzdem die Selbstverständlichkeit, mit der man meint, Gott aus der Geschichte hinaus analysieren zu können, angesichts der biblischen wie auch der literarischen Vorlage, die in diesem Punkt ganz unzweideutig sind, eigentümlich berührt – es sei dem Theologen-Herz, das in der Brust des Rezensenten schlägt, gestattet, solches anzumerken.
Bernhard Lang, Komponist von „Hiob“ © Harald Hoffmann
Denn sowohl das Alte Testament wie auch noch Joseph Roth geht es doch unter anderem darum, mit dem literarischen Finger schonungslos gerade auf den Skandal zu zeigen, wenn sich Gott im verhängten Leiden an dem Menschen, der unerschütterlich mit ganzer Kraft an ihm festhält, vergeht. „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ – wird nicht die eigentliche Wucht einer solchen Anklage in letzter Konsequenz abgemildert, die Wunde, die im Humanum klafft, beschwichtigend überschminkt, wenn es Gott nicht gibt, und stattdessen davon die Rede ist, dass wir angesichts des Leidens „unser Schicksal selbst in die Hand nehmen“ müssen (so Sturminger im Programmheft).
Was konkret bedeutet, dass in der Oper wohl der Plot der Romanvorlage Roths in einer schlüssigen Auswahl erzählt wird – einige der besonders dichten Szenen des Romans erscheinen aber in der Oper überraschend reduziert. Denn mit der authentischen Gottesbeziehung Hiobs ist ihnen auch die „Substanz“, ihre dramatische Grundlage abhanden gekommen: so etwa die packende Schilderung des Glaubensabfalls Mendels oder die -–natürlich legendhaft, wundersame – Wiederbegegnung mit dem tot geglaubten behinderten Sohn und seiner „Melodie“, beides Höhepunkte bei Roth.
Es gibt nicht allzu viele Opernstoffe, die an die Fundamente der condition humaine rühren, Wagners Ring ist einer davon; der biblische und/oder der Roth’sche Hiob hätten das Potenzial dafür besessen. Lang und Sturminger haben mit großem Instinkt aus der Story von Joseph Roth ein beachtliches musikdramatisches Werk geschaffen – einer letzten Konfrontation mit der abgründigen Frage des menschlichen Leidens gerade in einer aufrechten Beziehung zu Gott haben sie anscheinend, leider, nicht standgehalten.
Michael Sturminger, Librettist von „Hiob“ © Ingo Pertramer
Womit aber nicht bestritten werden soll, dass das Werk, das hier entstanden ist, für sich genommen ein packendes Stück Musiktheater ist, das es verdienen würde, auch von anderen Bühnen aufgegriffen zu werden.
Die Musik Bernhard Langs ist heutig und überfordert doch zu keiner Zeit ein Publikum, das zumindest gelernt hat, einen Strauss’schen Gänsebraten (Zitat Thielemann) zu verdauen. Denn abgesehen von den vor allem im ersten Akt reichlich vorhandenen Klezmer-Elementen, die sowohl in Rhythmik als auch Melodik zugänglich, ja vertraut sind, verleihen die Bezugnahmen auf die mitteleuropäische Musik-Tradition (bis hin zu expliziten Zitaten etwa von Puccinis Butterfly) ausreichend „Trittsicherheit“ auch beim ersten Hören. Ansonsten wird man im Bezug auf das szenische Geschehen an Filmmusik denken, die emotionale Vorgänge unterstreicht, Spannung aufbaut und dennoch nicht verstört. Die einzelnen, größtenteils kurzen Szenen bilden auch musikalisch jeweils gut unterscheidbare Einheiten, die meisten Figuren haben ausdrucksstarke, ariose Soli-Passagen.
Das dramatische Geschehen auf der Bühne besteht aus einer zügigen Abfolge von Szenen, die auf den Roman von Joseph Roth Bezug nehmen und ihn – unter den bereits erwähnten Weglassungen – nacherzählen. Wenn, was ein bisschen der Eindruck ist, insgesamt die Absicht leitend war, das Publikum nicht zu überfordern, so hat auch Michael Sturminger im Libretto darauf Rücksicht genommen: wobei man sich an manchen Stellen, etwa wenn die Schicksalsschläge über Mendel hereinbrechen, durchaus gewünscht hätte, dass nicht so rasch zum nächsten Thema weiter geeilt würde. Inwieweit die Auflösung der Geschichte, also die – tatsächliche oder erträumte – Wiederbegegnung Mendels mit seinem behinderten Sohn, in der vorliegenden Realisierung auch für Zuschauer verständlich ist, die den Roman nicht kennen, mag dahin gestellt bleiben.
Sturminger verantwortet, und das mag in Zeiten, wo viel über Werktreue und Regietheater diskutiert wird, selbst die Regie der Uraufführung, was als bemerkenswertes Szenario in die laufenden Auseinandersetzungen einfließen könnte. Zumindest ist davon auszugehen, dass das, was man zu sehen bekommt, auch den Intentionen des Teams aus Autor und Komponist entspricht (aber natürlich keinesfalls die einzig legitime Interpretation von deren Werk darstellen kann). Bühne und Kostüme (Renate Martin, Andreas Donhauser) beschränkten sich auf das Wesentliche und führen mit wenigen effektvollen Versatzstücken die häufig wechselnden, von der Drehbühne präsentierten Tableaus vor Augen: dabei ist im Städtel fast alles durchgehend monochrom schwarz/weiß, mit Ausnahme von Mirjams Kleid, in dem ihre Lebensfreude zum Ausdruck kommt, Amerika ist bunter, doch nehmen sich die Mendels (wohl absichtlich) darin seltsam deplaziert aus. Die Personenführung setzt eindringliche Akzente, besonders im Gedächtnis haften die Geburt des behinderten Menuchins, die in ihrer Schlichtheit raffiniert gelöste Überfahrt der Singers nach Amerika und Deborahs Tod. Eigens erwähnenswert ist die Tatsache, dass alle Personen, die nicht zur Familie Singer gehören, von einem einzigen Darsteller verkörpert werden, was wiederum die Konzentration auf deren Schicksal unterstützt. Von der für sich genommen nicht ganz einfach verständlichen Wiederkehr Menuchims zum Finale war bereits die Rede.
Alexander Kaimbacher als Mendel Singer in der Schluss-Szene
(im Hintergrund Thomas Lichtenegger als sein totgeglaubter Sohn) © Karlheinz Fessl
Was die musikalische Seite der Produktion betrifft, so kann der britische Dirigent Tim Anderson einige Erfahrung mit zeitgenössischem Repertoire einbringen, der das groß besetzte Orchester mit ansteckender Begeisterung durch das Werk führt. Das um einige Jazz-Instrumente und einen Synthesizer verstärkte Kärntner Symphonieorchester stellt, nicht zuletzt durch quasi authentischen Klezmer-Sound, seine Vielseitigkeit unter Beweis. Die sängerischen Leistungen bewegen sich allesamt auf höchstem Niveau und tragen ihrerseits zur spontanen Akzeptanz des Auditoriums für das noch nie gehörte Werk ein: allen voran der hervorragende Alexander Kaimbacher in der Rolle des Mendel. Er besticht mit seinem technisch makellos geführten, volltönenden Tenor, der auch in der melodramatischen Deklamation beeindruckt. An seiner Seite als Deborah überzeugte die Tschechin Katerina Hebelkova je nachdem mit sattem Klang oder schonungsloser Expressivität. Der Wiener Counter-Tenor Thomas Lichtenegger berührte zutiefst als Mendels behinderter Sohn Menuchim – trotz heikler Vorgaben, stimmlich souverän.
Viktor Rydén und Benjamin Kelly Chamandy verkörperten die anderen beiden Söhne Mendels, die im Krieg zugrunde gehen, glaubhaft, wenn auch gelegentlich von den orchestralen Wogen heftig umspült, die Irin Ava Dodd war ihre attraktive, lebenshungrige – und vor allem überaus höhensichere Schwester Miriam. Wandlungsfähig sowohl in Spiel als auch Gesang erwies sich Steven Scheschareg als Arzt/Rabbi/Söldnerführer Kapturak/Nachbarin (!) und Mac. Dem Chor des Stadttheaters Klagenfurt oblag, abgesehen von der Präsenz in Massenszenen wie bei der Ankunft der Singers in Amerika, teilweise nach antikem Vorbild die Aufgabe eines Kommentators, teilweise die Unterstreichung solistischer Passagen, teilweise die klangliche Ergänzung des orchestralen oder der sängerischen Parts: er tat dies dank der Einstudierung von Günter Wallner sehr differenziert und auch gut verständlich.
Wie gesagt: enthusiastischer Jubel, zu Recht.
Valentino Hribernig-Körber