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KINDESWOHL

26.08.2018 | FILM/TV, KRITIKEN

Filmstart: 31. August 2018
KINDESWOHL
The Children Act / GB / 2018
Regie: Richard Eyre
Drehbuch: Ian McEwan, nach seinem gleichnamigen Roman
Mit: Emma Thompson, Fionn Whitehead, Stanley Tucci, Jason Watkins u.a.

Wie lange hat man schon keinen wirklich „erwachsenen“ Film gesehen, echtes Thema, ernsthafte Fragestellung, ohne Sensationshascherei ausgearbeitet? Hier ist er, und obwohl lauter künstlerische Schwergewichte am Werk waren, um schwere Fragen zu diskutieren, ist es dennoch alles andere als eine trockene, harte Geschichte geworden – sondern vielmehr ein Film von federnder Spannung.

Der deutsche Titel „Kindeswohl“ impliziert zu viel Kitsch, um der Sache gerecht zu werden. „The Children Act“, sprich: das Kindergesetz, trifft es eher. Darum geht es im Grunde in dem Roman des Briten Ian McEwan, der mit seinen Büchern schon für andere spannende Filme sorgte (etwa „Abbitte“). Wobei er aus dem behandelten „Fall“ auch einfach eine dramatische Gerichtssaal-Story hätte machen können. Aber Ian McEwan schrieb das Drehbuch selbst und wendet sein Augenmerk vor allem der Frau zu, die mit dem Fall belastet ist – und erzählt auch noch eine Menge über sie.

Es geht um Fiona Maye, die, wenn sie ihren Talar anzieht, The Honorable Mrs Justice Maye DBE (sprich: Dame Commander of the Order of the British Empire) ist, also eine Frau von Bedeutung und Verantwortung. Familienrichterin, mit vielem befasst, darunter so schweren Entscheidungen, ob ein siamesischer Zwilling geopfert wird, damit der zweite leben kann. Wir lernen sie zuerst „privat“ als die schwer überarbeitete Frau kennen, die auch zuhause nur über ihrem Laptop und ihren Akten hängt. Nicht, dass sie ihren freundlichen Gatten nicht möchte – sie hat nur absolut keine Zeit, sich mit ihm zu befassen. Nicht, weil sie eine Karrierefrau ist. Sondern weil sie arbeiten muss, sich vorbereiten, Entscheidungen treffen.

Die private Ebene ist wichtig: Denn wenn der Ehemann sich verabschiedet, um bei einer anderen Frau Sex und Zuwendung zu finden, wird an den Grundfesten von Fionas Existenz gerüttelt (und eigentlich reagiert sie „echt weiblich“ tobsüchtig). Aber sie hat schon ihren nächsten Fall, um den es geht: Der 17jährige Adam Henry leidet an Leukämie, eine Bluttransfusion könnte ihn retten, seine Eltern, die den „Zeugen Jehovas“ angehören, wollen lieber seinen Tod in Kauf nehmen, als diese „Verschmutzung“ seines Körpers dulden.

Fiona befragt alle, auch Adam im Krankenbett, ein seltsamer Junge, der sie tief berührt – und sie rettet, auch gegen seinen eigenen Willen, sein Leben, indem sie die Transfusion anordnet. Ihr Respekt vor dem Leben als Wert ist größer als ihr Respekt vor religiösen Überzeugungen.

Aber damit ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende. Adam, in der Folge seinen Eltern entfremdet, entwickelt einen klassischen Fall von Abhängigkeit, beginnt Fiona zu stalken, will sich einen Platz in ihrem Leben erkämpfen. Ihn zurückzuweisen, ist für sie so schmerzhaft wie selbstverständlich, denn nie wäre sie zu irgendeiner irrationalen Tat fähig.

Aber der Kampf, den sie mit sich austrägt, das Verhalten, das sie Adam gegenüber zeigt – man kann es sich einfach nicht überzeugender vorstellen als Emma Thompson das spielt, die uns so sehr hinter die Fassade der Richterin sehen lässt, ohne jemals irgendeine Art von „Theater“ zu machen. Man ist atemlos dabei, ihr nur zuzusehen.

Fionn Whitehead (eines der vielen jungen Gesichter aus dem „Dunkirk“-Film) leidet die ganze Verwirrung der Gefühle, die der Jugend auferlegt wird, ist lyrisch und aggressiv, von seinen Emotionen zerrissen. Aber nicht minder stark ist der so „stille“ Gatte des Stanley Tucci, der eines Tages wieder vor Fionas Türe sitzt und seinen Platz in ihrem Leben zurück haben will. Keinesfalls ohne Bedeutung ist die nicht spannungsfreie Beziehung zu ihrem Adlatus (Jason Watkins), der immer für sie da ist und doch Distanz hält.

Und all das wurde von Richard Eyre, der viel Theater und wenig Film macht, mit einem untrüglichen Gefühl für nie endende innere Spannung in Szene gesetzt, ohne seine Geschichte je an Melodram, Billigkeit, Vordergründigkeit zu verkaufen. Ein Meisterstück.

Ein „Oscar“ für Emma Thompson ist wieder einmal mehr als fällig. Wer von großer Schauspielkunst fasziniert ist, muss sich diesen Film unbedingt ansehen.

Renate Wagner

 

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