Wieder einmal hat sich bestätigt, dass man nicht mit Vorurteilen in die Oper gehen soll. Ich war vor Allem an der Begegnung mit Peter Tschaikowskis Oper „Iolanta“ interessiert und zunächst skeptisch, ob mich die Inszenierung und die musikalische Interpretation in Kiel vom Stuhl reißen könnten. Erste Kritiken und die Pressefotos machten mich dann aber doch mehr als neugierig. Unter dem noch relativ frischen Eindruck der famosen und bejubelten „Zauberin“ an der Oper Frankfurt begab ich mich nun also in die Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins, um ein weiteres selten gespieltes Werk des russischen Komponisten erleben zu dürfen.
Die Vorlage des Librettos von Modest Tschaikowski, dem jüngeren Bruder des Komponisten, stammt vom dänischen Schriftsteller Henrik Hertz, so dass man hier im Norden, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Dänemark, einen eminenten Bezug zu dieser Oper hat. Auch mit dem Ort der Uraufführung, nämlich St. Petersburg, ist Kiel über die Ostsee verbunden. Politisch trennen uns aktuell zwar Welten von Russland, dennoch sind die verbindenden Elemente präsent und hoffentlich bald auch wieder vorherrschend.
Schon die ersten Töne des Philharmonischen Orchesters Kiel unter der Leitung von Daniel Carlberg entführen uns in eine märchenhafte Welt. Der Dirigent verzettelt sich nicht in Details, sondern führt Chor, Solisten und das Orchester die etwa neunzigminütige Aufführungsdauer hindurch zu einem von Innigkeit und Opulenz geprägten großen musikalischen Erlebnis. Schon während der Aufführung geizt das Publikum nicht mit Zwischenbeifall und Jubel, der schließlich während des langanhaltenden Schlussapplauses mit Standing Ovations und zahlreichen Bravos untermauert wird.
Adèle Lorenzi-Favart: ein Name, den man sich merken sollte (Foto: Olaf Struck)
Die junge französische Sopranistin Adèle Lorenzi-Favart gibt sich in der Titelrolle zunächst zurückhaltend und gewinnt im Laufe des Stückes -ganz der Rolle entsprechend- zunehmend an Profil. Die Blinde verkörpert sie dabei dermaßen überzeugend, dass man meinen könnte, sie würde tatsächlich nicht sehen können. Ihr dunkel timbrierter Sopran verzaubert mit seinen unzähligen Nuancen und ist von der ersten bis zur letzten Minute durch eine frische Leidenschaft geprägt, der es auch an Sinnlichkeit nicht mangelt. Es ist kaum zu glauben, dass diese beeindruckende Sängerdarstellerin bisher ein nahezu unbeschriebenes Blatt ist und noch ganz am Anfang ihrer vermutlich großartigen Karriere steht. Der ägyptische Tenor Ragaa Eldin zeichnet den Vaudémont mit lyrischer Stimmfarbe, die mit heldisch anmutender Kraft gepaart ist. König René wird mit sonorem schwarzen Bass von Matteo Maria Ferretti verkörpert. Alle drei entpuppen sich als Idealbesetzung. Schönstimmig verkörpert Samuel Chan den Robert und der Arzt Ibn-Hakia wird mit auftrumpfendem Bariton von Alexey Zelenkov rollendeckend portraitiert. Die kleineren Partien sind mit Sebastian Seibert (Almerik), Oleksandr Kharlamov (Bertram), Maria Gulik (Marta), Xenia Cumento (Brigittte) und Tatia Jibladze ebenfalls allesamt vokal bestens aufgelegt und überaus passend besetzt.
Alle Stimmen harmonieren so gut mit der Partitur, dass schon eine konzertante Begegnung in dieser homogenen Besetzung große Freude bereitet hätte. Hinzu kommt glücklicherweise eine zwar moderne, aber inhaltlich stimmige und optisch sehr schön (Ausstattung: Christophe Ouvrard) umgesetzte Regie von Carlos Wagner, der dieser Kurzoper mit großem Respekt begegnet und der Inszenierung die passende Würde verleiht. Er stellt die psychologische Ursache von Blindheit und deren mögliche Heilung in den Vordergrund und lässt die Handlung in einem horizontal zweigeteilten Einheitsbühnenbild spielen. Im unteren Teil befindet sich der Rosengarten, der hier -passend zur Wahrnehmung der blinden Iolanta- grau und dunkel erscheint. In der darüber liegenden Ebene befindet sich ein opulentes Zimmer mit Bücherregalen, Schreibtisch und Couch, gerade so wie man sich Siegmund Freuds Praxis wohl vorstellen würde. Hier oben behandelt schließlich der Arzt die blinde Königstochter im Rahmen therapeutischer Gespräche. Nach Iolantas Heilung erwecken den Garten zu guter Letzt hunderte von Farben in strahlender Helligkeit.
Beeindruckend: das zweigeteilte Bühnenbild mit der Freud’schen Praxis oben und dem Garten darunter (Foto: Olaf Struck)
In der Oper Kiel wird mit dieser Produktion erneut ein triftiger Grund geliefert, Opernreisen nicht schon an der Elbe zu beenden, sondern auch Deutschlands nördlichstes Bundesland in die Reiseplanungen mit einzubeziehen. Ich wohne zwar in der Region, aber wäre auch bei weiter Anreise nicht enttäuscht gewesen.
Marc Rohde 01/2023