KASSEL: TOSCA
16.10.2021 (Werner Häußner)
Copyright: Nils Klinger
Giacomo Puccinis „Tosca“ ist eine gegen Aktualisierungen ungewöhnlich widerständige Oper. Es gab eine Reihe von Versuchen, die alle letztlich wieder auf das herkömmliche Melodramma zurückgeworfen wurden. Marcus Lobbes scheiterte mit einem Blofeld-Scarpia schon 2007 in Würzburg. Jochen Biganzoli versuchte sich 2016 in Halle, der früheren Wirkungsstätte des jetzigen Kasseler Intendanten Florian Lutz, an einer radikal ausgedachten Dekonstruktion der Diva, in der die Männer ungeniert gemeinsame Sache machen. Das Problem: Handlung und Figuren der Oper sind so fokussiert, dass sie nur begrenzt für Deutungen offen sind. Je höher sich der gedankliche Überbau türmt, desto unschärfer werden Puccinis Protagonisten.
Jetzt wählte Lutz zum Auftakt seiner Intendanz neben Alban Bergs „Wozzeck“ wieder Puccinis Thriller, inszeniert von Sláva Daubnerová. Die slowakische Regisseurin und Performerin, bekannt geworden durch Grenzverschiebungen zwischen Schauspiel, Tanz, Performance und Medienkunst, debütierte 2018 in Deutschland mit Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ am Staatstheater Karlsruhe, wo sie 2022 „Salome“ von Richard Strauss inszenieren wird.
Aus „Tosca“ destilliert Daubnerová den kritischen Blick auf den Typus der „leidenden Frau“ und die Konfrontation mit einer als pervers beschriebenen männlichen Perspektive. Das liegt zunächst einmal nahe: Sexuelles Begehren, das sich institutioneller Macht bedient, subtile und offene Gewalt, Abhängigkeit und Erpressung sind selten so packend und direkt auf die Opernbühne gebracht worden. Zur Verknüpfung mit der „MeToo“-Debatte ist der Weg kurz.
Daubnerová erschließt in eindrücklichen Szenen mit Macht und Sex konnotierte männliche Fantasien: Cavaradossi ist ein hipper, schon leicht gealterter Medienkünstler mit Laptop, der immer den gleichen Typ Frau für seine Foto-Inszenierungen benutzt: weißblonde Wellenfrisur, aufreizende Lippen, Geschlechtsmerkmale betonende Körper in Unterwäsche, laszive Blicke. Die mit Maschinenpistolen posierenden Frauen repräsentieren auch das Spiel mit Verfügungsmacht, Dominanz und Unterwerfung. Vor dem Auftritt Scarpias räumen Mädchen die Bühne, von Kostümbildnerin Dorota Karolczak mit kniekurzen Hosen und Sakkos als androgyne Wesen charakterisiert. Eine andere Truppe blond bezopfter Maiden muss den Bühnenboden mit ihren Blusen schrubben: Erniedrigung nach Art perfider Macho-Pädagogik. Kontrolliert werden die weiblichen Kohorten von jungen, coolen Typen mit Zigaretten und Schiebermützen – typischen Sprösslingen eines patriarchalen Systems, wie es sich etwa in Filmen der Fünfziger Jahre noch ohne Skrupel ausstellt.
Lutz wiederholt zum Auftakt seiner Zeit in Kassel das Experiment von Halle und lässt den Ausstatter Sebastian Hannak wieder eine die herkömmliche Aufteilung in Bühne und Zuschauerraum sprengende Konstruktion errichten. Das „Pandaemonium“ zieht sich als mehrstöckiges Gerüst über die gesamte Breite der riesigen Haupt- und Seitenbühnen des Kasseler Staatstheaters, überquert mit einem Steg den vorderen Teil der Hinterbühne, auf der das Orchester platziert ist. Nebenspielflächen in den Ecken und in der Tiefe des Bühnenhauses sind auf Bildschirmen einsehbar, damit die im Parkett oder auf den Gerüstebenen sitzenden Zuschauer alle Szenen mitverfolgen können.
Einer dieser Räume ist die Künstlergarderobe, in der Tosca vorbereitet wird. Eine Ikone männlicher Imagination, mit roter, ausladender Robe ausstaffiert, mit der Kamera in Großaufnahme eingefangen und auf die Screens projiziert. Ihr erster Auftritt zeigt sie als „private“ Frau, die Haare zum Zopf gebunden, mit rotem Sakko und engen Jeans mit beinah männlichen Zügen. Im zweiten Akt wird sie aus der Unterbühne hochgefahren, steht unbewegt in ihrem gewaltigen Reifrock, der sich im Lauf der Auseinandersetzung mit Scarpia als Objekt des Begehrens und als Chiffre für den „männlichen Blick“ offenbart. Denn Scarpia stürzt sich nicht auf Tosca selbst, sondern reißt ihr die Stoffhülle vom Leib und drückt sich bei „Tosca, finalmente mia“ an das flauschige Tuch. Das Spiel mit dem roten Kleid endet, als es die Künstlerin am Ende, statt selbst zu springen, vom Steg über der Bühne in die Tiefe rauschen lässt. Symbolischer Absturz der männlichen Perspektive? Untergang von Tosca als Objekt sexistischer Prägungs-Fantasie?
In diesem entscheidenden Moment stößt die Regie an die Grenzen ihres hochfahrenden Gestaltungswillens. Schon vorher wird der Charakter Toscas in seiner Fallhöhe beschädigt, denn sie ersticht Scarpia nicht in Notwehr, sondern schneidet ihm gezielt die Kehle durch – ein hinterrücks vollbrachter Mord (aber vielleicht auch nur aus „männlicher“ Perspektive). Vollends reißt der konzeptionelle Faden in der Erschießung Cavaradossis. Der Künstler betritt nach der Folter im zweiten Akt pumperlgesund mit zwei Kumpanen die Bühne, wirft sich erst vor dem Blick Toscas als leidendes Opfer zu Boden und lässt sich mit dieser Show offenbar als Teil eines abgekarteten Spiels begreifen.
Von der bezopften Mädchentruppe in blau-weißem Outfit (Jugendchor Cantamus) abgeknallt, bleibt er im dritten Akt leblos liegen. Also doch Opfer, aber wessen? Tötung der männlichen Perspektive, die er ähnlich wie Scarpia repräsentiert? Selbstermächtigung Toscas? Die Fragen bleiben trotz aller Gestaltungswut und Bilderflut offen. Und das Opernkunstwerk „Tosca“ zeigt wieder einmal, dass es als starkes Plädoyer gegen die „Perversität der männlichen Perspektive“ eher in der Form einer sorgfältig die Charaktere ausforschenden Inszenierung taugt.
Sehr gelungen allerdings ist eine neue Perspektive auf Angelotti, wohl ausgehend von der Bemerkung im Libretto, die Schwester des geflohenen Häftlings habe für ihn zur Flucht Frauenkleider versteckt. Daubnerová macht aus „ihm“ eine Transperson, die sich in der von Männlichkeit dominierten Welt nur im geschützten Raum als Frau zeigen kann: Zur Flucht zieht Angelotti wieder Männerkluft an. Das Versteck – der „pozzo del giardino“ mutiert zu einer Art Wohnküche – ist auf Bildschirmen simultan zur Bühnenhandlung sichtbar, als sich Angelotti erschießt. Eine ideale Rolle für die Bassbaritonistin und Transperson Sam Taskinen.
So ambitioniert die szenische Realisation ist: Sie geht zu Lasten der Musik. Das Orchester ist unter der Leitung von Francesco Angelico trotz der Corona-Abstände zwischen den im riesigen Bühnenraum platzierten Musikern weitgehend präzis, aber die Balance zwischen den Instrumentengruppen ändert sich von Platz zu Platz. Hier dominieren die Hörner alles, dort hat man Harfenakkorde wie Peitschenschläge am Ohr. Tiefe Streicher oder Holzbläser dagegen sind kaum zu hören. Angelico kann unter diesen Umständen kaum Freiheiten geben, sondern muss auf exakte Koordination achten. So klingt dann etwa auch das Vorspiel zum dritten Akt. Puccinis Puls, seine Bögen und sein gelöst organischer Melodiefluss sind so nicht möglich.
Als Tosca war Monica Zanettin zu erleben. Beeindruckend, wie sie ihre Rolle ausfüllt und auf die Intention der Regie eingeht, weniger jedoch, was sie mit ihrem „modernen“, auf strahlend-präsente, vibratoreiche Tongebung getrimmten Sopran macht. Der Ton ist nur im Zentrum und in der unteren Mittellage dunkel-üppig und frei, wirkt im Aufstieg fest und erreicht manche Höhe nur flackernd oder angedeutet. „Vissi d’arte“ strömt nicht in freiem Legato, das Mezzoforte wird durch ein öliges Vibrato uneben. Ricardo Tamura erinnert stellenweise an die großen Interpreten des Cavaradossi, ohne mit einem limitierten Tenor glanzvollen Enthusiasmus oder lyrische Wehmut zu entwickeln.
Hansung Yoo als Scarpia ist der Clou des Abends: Als führe er aus der Hölle herauf, bringt ihn ein Hubpodium von unten auf die Bühnenebene. Ein abstoßender Greis mit zotteligem Haarkranz, angewiesen auf ein Elektro-Squad, um sich fortzubewegen. Die Diskrepanz zwischen körperlicher Hinfälligkeit und seiner Potenz im Spinnennetz der Macht ist eklatant. Yoo unterstreicht die gefährliche Ausstrahlung dieses Gezeichneten mit einer voluminösen, schlagkräftigen Stimme, die zwar nicht die Eleganz des perfiden Kavaliers Scarpia ausstrahlt, aber mit ihrer vokalen Gewalt die subalternen Figuren – den Mesner (Michael Tews) und die Handlanger Spoletta (Lars Rühl) und Sciarrone (Hakan Ciftcioglu) – beherrscht. Auch wenn dieses Zerrbild die Spannung der Figur zwischen der noblen Oberfläche des Auftretens und der aus dem Inneren hervorbrechenden Brutalität aufhebt – ein beklemmendes Rollenporträt ist es allemal.
Werner Häußner