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KASSEL / Martinskirche: JOHANNESPASSION von ARVO PÄRT

11.04.2022 | Konzert/Liederabende

KASSEL / Martinskirche: JOHANNESPASSION von ARVO PÄRT
9.4.2022 (Werner Häußner)

päär
Copyright: Häußner

Leiden und Hinrichtung des Jesus von Nazareth haben Generationen von Komponisten inspiriert, die dramatischen Vorgänge der drei Tage vor dem jüdischen Paschafest durch ihre Musik dem Zuhörer nahe zu bringen, ihn zur Andacht zu begleiten und ihm durch betrachtende Teilnahme die Bedeutung des Todes Jesu für seine eigene Existenz zu erschließen. Allenthalben erklingen also vor und in der Karwoche Passionsmusiken; Johann Sebastian Bachs Matthäus- und Johannespassion gehören zum Kern selbst einer weithin säkularisierten Religiosität des schwindenden christlichen Bildungsbürgertums. Die Musik an der Martinskirche in Kassel hat sich in diesem Jahr zu einer kleiner besetzten modernen Passionsvertonung entschlossen und bot am Palmsonntag und dem Samstag davor die Johannespassion des 1935 geborenen estnischen Komponisten Arvo Pärt.

Die 1985 in letzter Fassung uraufgeführte Passion verzichtet fast gänzlich auf Dramatik und Reflexion. Es gibt nicht, wie bei Bach und vielen seiner Nachfolger, betrachtende Einschübe, Arien oder Choräle. Weder eine Gemeinde noch eine fromme Seele antwortet auf den kargen Bericht aus dem 18. und 19. Kapitel des Johannesevangeliums, der strikt Vers für Vers vertont ist. Lediglich am Ende formuliert der Chor die Bitte um Erbarmen: Miserere nobis.

Musikalisch ist die Passion ein wichtiges Zeugnis des sogenannten Tintinnabuli-Stils, den Pärt aus der Beschäftigung mit der Gregorianik und mit der Absicht einer radikalen Reduktion der Mittel entwickelt hat. Ein kleiner Chor, ein Solistenquartett plus zwei Solo-Stimmen für Jesus und Pilatus, ein Instrumentalensemble aus Orgel, Violine, Cello, Oboe und Fagott – das genügt. Das Quartett übernimmt die Rolle des Evangelisten, der vierstimmige Chor repräsentiert das Volk, singt aber auch die Worte des Petrus. Ein Tenor gestaltet die spannungsreiche Partie des Pilatus, in der immer wieder der „diabolus in musica“, der Tritonus auftaucht – Hinweis auf den ambivalenten Charakter des römischen Statthalters, der Jesus unter dem Druck des Volkes zum Tode verurteilt. Jesus selbst ist ein Bariton, der als einziger unbegleitet singt und bei seinem letzten Wort, „Es ist vollbracht“, in Baßtiefen hinabsteigt, während der Chor unisono, in einem verschwebenden Piano auf einem Ton betrachtet, wie Jesus sein Haupt neigt und seinen Geist hingibt.

Die Kunst Arvo Pärts besteht darin, die Statik, die sich aus der strengen Vertonung Silbe für Silbe ergibt, durch die Kombination der Melodiestimme mit den „Tintinnabuli“-Dreiklängen ins Erhabene zu steigern. Dazu trägt auch der gleichmäßige Rhythmus bei, der keine dynamisch sich entwickelnde Polyphonie zulässt und den Eindruck des Archaischen stützt. Dennoch wirkt die Musik nie gleichförmig: Die Kombination von Melodie und Dreiklängen ermöglicht viele feine harmonische Nuancen, die farblich durch den Einsatz der Instrumente unterstützt werden. Innere Vielfalt bei äußerer Kargheit – das ist Pärts Geheimnis.

Der Zuhörer kann darauf unterschiedlich reagieren, aktiv den Varianten der Konsonanz und der geradezu schön wirkenden Dissonanzen folgen – oder sich von dem meditativen Gleichmaß fesseln und in betrachtende Ruhe versenken lassen. Von dramatischer Deklamation oder Wortgewichtung wie etwa bei Bach wird er daraus kaum entrissen; lediglich im Einsatz von Instrumentalfarben deutet Pärt hin und wieder so etwas wie eine dramatische Zuordnung an. Nur als der Chor die Freilassung des Barabbas fordert, fühlt man sich in der glasigen gehaltenen Dissonanz an Bach erinnert, und die Silben von „flagellavit“ bei der Geißelung Jesu fahren wie die Hiebe der Peitsche einzeln nieder.

Die Sängerinnen und Sänger der Kantorei St. Martin, noch ganz coronagerecht einzeln aufgestellt, werden mit vorzüglicher Disziplin und vor allem akkurater Intonation der asketischen Musik Pärts gerecht. In Vertretung des erkrankten Kirchenmusikdirektors Eckhard Manz leitet Andreas Cessak die Aufführung mit großer Umsicht und stetiger Ruhe. Auch das Solistenquartett  mit Viktoria Wilson (Sopran), Anna Schaumlöffel (Alt), Shimon Yoshida (Tenor) und Jonathan de la Paz Zaens (Bass) stellt sich in aparter Balance und klanglicher Disziplin in den Dienst der geforderten schlichten Expressivität. Christian Georg ist ein markanter Pilatus, der sich nicht scheut, seine melodischen Linien mit leuchtendem Klang zu erfüllen. Jakob Kreß ein würdevoller Jesus.

Ronja Sophie Putz spielt mit innerer Bewegung die Chaconne aus der Partita für Violine solo BWV 1004, die zugleich vom Eingangsstück, Knut Nystedts Bearbeitung von Bachs „Komm, süßer Tod“ zu Pärts Passion überleitet – ein rund fünfminütiges Experiment des 2014 verstorbenen norwegischen Copland-Schülers aus dem Jahr 1997, das die Intonationssicherheit des Chores auf eine harte Probe stellt, die er in den lang zu haltenden dissonanten Klangflächen aufs Trefflichste besteht.

Werner Häußner

 

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