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KASSEL: „MANFRED“ – ein „dramatisches Gedicht mit Musik“ von Robert Schumann

19.11.2021 | Konzert/Liederabende

KASSEL: MANFRED von Robert SCHUMANN
18.11.2021 (Werner Häußner)

Robert Schumann war auf der Spur von etwas „ganz Neuem und Unerhörtem“, als er 1848 begann, den lang gehegten Plan umzusetzen, Lord Byrons „Manfred“ in eine musikalische Form zu bringen. Eine Oper schwebte ihm nach dem Misserfolg seiner „Genoveva“ nicht vor. Eher, so schrieb er seinem Freund Franz Liszt, sollte aus Byrons romantisch-depressivem „mental theatre“ ein „dramatisches Gedicht mit Musik“ erwachsen. Der Musikbetrieb liebt solche seltsamen Zwischenwesen nicht, und so kommt es, dass bis heute Schumanns Opus 115 für Soli, Chor, Orchester und Sprecher eine Seltenheit auf den Spielplänen ist. Lediglich die Ouvertüre genießt eine gewisse Popularität.

Das Staatstheater Kassel hat nun zum Buß- und Bettag sein zweites Sinfoniekonzert mit diesem philosophisch wie musikalisch außergewöhnlichem Werk bestritten. Es steckt tief in der schwarzen Romantik, und die Einrichtung des Kasseler „Ring“-Regisseurs Markus Dietz konzentriert sich auf den überraschend modernen Aspekt der Einsamkeit des Individuums. Die faustischen Züge Manfreds – man fühlt sich an Schumanns „Scenen aus Goethes Faust“ erinnert – äußern sich in einem selbstzerstörerischen Hang zum Vergessen. Dietz hebt nicht auf die inzestuöse und einen Suizid auslösende Liebe des Helden zu seiner Schwester ab, sondern macht in seiner Textfassung Astarte zur fernen Geliebten, Objekt einer sehrenden Sehnsucht, aber auch nur überhöhender Spiegel und verklärtes Idealbild Manfreds selbst. Er fühlt eine Schuld, die mit der Existenz selbst gegeben ist und die er versucht, mit Hilfe der Elementargeister und einer „Alpenfee“ als Inkarnation der romantisch übersteigert erlebten, erhabenen Natur zu bewältigen.

Doch die Transzendierung gelingt nicht. Astarte, bezeichnenderweise eine in der Antike weit verbreitete Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin, schweigt still in der Sphäre der Seligen, spricht ihm kein Wort der Verzeihung und der Gnade zu. Trotzig trägt Manfred das Schicksal des einsamen, tragischen Individuums. Er lehnt die christlich geprägten Angebote eines Abtes ab: Der einsame Löwe akzeptiert keine menschliche Vermittlung, zieht sich auf radikale Singularität zurück. Das Ende erinnert auch an „Faust“: Als der Tod seine Hand an Manfred legt, schwemmt der Chor mit seinem wuchtigen „Et lux perpetua“ die schwarze Hoffnungslosigkeit weg. Die ewige Ruhe verspricht, wenn auch keine Erlösung, wenigstens einen Frieden, den Manfred erst kurz vor seinem Sterben erahnt hat.

Es ist erstaunlich, welche musikalischen und literarischen Bezüge sich von Schumanns Experiment weit in die Musikgeschichte verzweigen. In der Ouvertüre meint man, nach dem überleitenden Trompetensignal zum raschen Teil Heinrich Marschner nachklingen zu hören, der mit dem „Vampyr“, noch mehr noch mit dem Tempelritter aus „Der Templer und die Jüdin“ einen ähnlich radikalen Charakter in die Oper eingeführt hat. Ein Englischhorn-Solo lässt an Wagners „Tristan“ denken, an dessen „Tannhäuser“ das Motiv der existenziellen, von wilder Sexualität grundierten Schuld erinnert. Und ist es verstiegen, im Pathos der von entschiedenen Pauken gestützten Posaunen, aber auch in der Naturidylle vor dem Erscheinen des Alpengeistes Anton Bruckners sinfonische Lyrik zu erahnen?

Unter den exakten, kundig die Musik bündelnden Händen von Francesco Angelico entfaltet das Kasseler Orchester die expressive Schönheit von Schumanns Einfällen. Mendelssohn’sches Licht, von Bässen eingewölkte Düsternis, sehnsuchtsvolle Rufe, diskrete Zurückhaltung in den Melodramen, erhabene Einfachheit wie in einer Oper Glucks in der Ansprache an Astarte, aber auch heroische Fülle, etwa in der Einleitung zur dritten „Abtheilung“ des großen Gedichts, werden mit Sorgfalt und Klangsinn realisiert. Die Akustik der Martinskirche lässt allerdings nur wenig Differenzierung zu; die Balance zwischen Holzbläsern und Streichern, seltsamerweise manchmal auch ein abgerundeter Klang des Blechs lassen sich offenbar nur schwer optimieren. Der Chor dagegen klingt am manchen Stellen aus einem halligen Ungefähr, dann wieder kraftvoll-präsent, könnte sich aber im Klang geschmeidiger mischen. Das dürfte nicht Marco Zeiser Celestis Einstudierung, sondern der Platzierung geschuldet sein, denn im Finale gelingt das Gegenüber von Chor (von der Empore) und Orchester vortrefflich.

Markus Dietz meidet als Sprecher, die gewählten Byron’schen Worte pathetisch aufzuladen. Er pflegt behutsame Distanzierung und eine gemessene, auf Sinnbezüge achtende Deklamation. Auch Meret Engelhardt folgt als Sprecherin dieser Linie und setzt eine wohlklingende, unforcierte Diktion ein. Die Solisten Margarethe Fredheim (Sopran), Maren Engelhardt (Mezzo), Daeju Na (Tenor) und Magnus Piontek (Bass) bedenkt Schumann mit nicht gerade dankbaren Partien. Man verlässt das Konzert nicht nur beeindruckt von Schumanns tiefgründiger Musik, sondern auch tief berührt von einem Stoff, der die unnennbare Sehnsucht der Romantik, wie sie E.T.A. Hoffmann in literarische Meisterwerke gefasst hat, erschütternd radikalisiert.

 

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