KASSEL: CAVALLERIA RUSTICANA / I PAGLIACCI
8.1. 2020 (Werner Häußner)
„La commedia é finita“. Erstickt, tonlos spricht Tonio die Worte aus, die Ruggiero Leoncavallos Oper „I Pagliacci“ nach dem mörderischen Furor des zutiefst verletzten Canio beenden. Der Vorhang fällt, Canio reicht dem Mann, den er wenige Sekunden zuvor hitzig niedergestochen hat, die Hand. Der erhebt sich, schüttelt die Kleider wieder gerade. Alles Theater. Alles? Denn Nedda bleibt in ihrem roten Kleidchen mit dem Fünfziger-Jahre-Muster reglos auf dem Tisch liegen. Tot? Warum sie und nicht auch ihr Liebhaber Silvio?
Mit diesem Schluss überrascht Tobias Theorell in seiner Inszenierung der notorischen Cav/Pag-Zwillinge am Staatstheater Kassel – und liefert leider keine Erklärung, warum das an sich sinnvolle Theater-auf-dem-Theater-Prinzip ausgerechnet an dieser entscheidenden Stelle durchbrochen wird. Dabei haben diese „Pagliacci“ prachtvoll begonnen – nicht nur mit einem schlichtweg fantastisch durchgestalteten Prolog von Hansung Yoo, einem stimmlich exzellenten, in der Färbung und Gewichtung der Worte wie in der runden, unangestrengten klanglichen Erfüllung der Töne herrlich opulentem Bariton. Sondern auch mit der Szene Herbert Murauers: Die Komödiantenbretter erstrecken sich über die ganze Breite der Bühne; sie trennen die Welt der Zuschauer wie ein unüberwindlicher Wall von der Welt der Komödianten.
Wir blicken als Zuschauer auf das Geschehen hinter der Bühne: ein paar Requisiten, Schminktisch und –spiegel. Tonio ist nicht der krumme Krüppel: Der Buckel ist angeschnallt, das Hinken ist Mache. Er ist auch nicht von Anfang an der gierige Finsterling. Der Gesang Neddas rührt ihn, aber sie erkennt nicht, wie die Musik seine Seele bezaubert. Sie klebt ihm leichthin die rote Nase an, stößt ihn damit in seine Rolle zurück. Das Drama kommt in Gang, weil beide sich verkennen – und Tonio wandelt sich durch die Kränkung in ein paar Minuten zum übergriffigen, rachsüchtigen Gewalttäter.
Theorell zeigt das in seiner Personenführung ebenso überzeugend wie er zuvor die verzweifelte Liebe Canios auf die Bühne bringt, und der Tenor Marius Vlad folgt ihm darin mit allen Fasern. Ein Mann, der viel in das Kind Nedda investiert hat und jetzt, da sie seine Frau ist, die Zinsen erwartet. Dass Nedda die Beziehung anders, als Gewalt- und Zwangsgeschichte erlebt hat, dass sie mit dieser Ehe eher Pflicht und Erwartungshaltungen als dem Impuls der Liebe gefolgt ist, erkennt er nicht. Sie aber macht es in Wort und Spiel deutlich: Ani Yorentz singt ihre Partie sensibel für solche Zwischentöne und im Timbre mit italienischer Markanz statt mit der bei Nedda oft zu erlebenden Soubretten-Leichtigkeit. Und sie verkörpert die Distanz zu ihrem Mann behutsam, fast zärtlich, rücksichtsvoll, aber im entscheidenden Moment sehr entschieden und selbstbewusst.
Spannendes, ja packendes Theater also, die Ebenen des Authentischen und des Gespielten geschickt verwebend, verschleiernd, verschiebend. Auch das Orchester unter Mario Hartmuth spielt mit, hebt die Finessen der Komposition ans Licht, kostet den Ton der Leidenschaft aus, meidet plakative Effekte. Aber dann der Schluss, der originalitätssüchtig wirkt: Was haben wir in diesem so oft gezeigten und so selbstverständlich „funktionierenden“ Stück noch nie gesehen?
Pietro Mascagnis „Cavalleria rusticana“ wehrt sich entschiedener gegen die Versuche, den kruden Naturalismus zu durchbrechen und ins Fantastische hinein zu steigern. In diesem Fall hat Theorell kaum eine Chance, weil sich das Stück mit Macht durchsetzt. Santuzza wird von Anfang deutlich als Außenseiterin definiert; der Chor, bis auf blecherne Sopranklänge und ein paar Wackler in den „A casa“-Einsätzen klangstark und zuverlässig, stellt sich an der strengen, anti-folkloristischen Architektur auf beiden Seiten der Bühne auf: keine wuselnde oder sich in Prozessionen ergehende Bevölkerung, sondern fast eine antike kommentierende Masse.
In den Hintergrund projiziert Murauer Videobilder einer prangenden Barockkuppel als Chiffre für die Macht der Religion. Santuzza ist eine „Gefallene“, die ihr Leid in der schmerzhaften Mutter Gottes wiedererkennt. Theorell zeichnet die Männer gegen das Klischee: Turiddu nicht als Bruder Leichtfuß, sondern als einen unbedachten jungen Mann, der von seiner einstigen, ihm entzogenen Liebe Lola nicht lassen kann. Alfio nicht als schnaubenden Hitzkopf, sondern als einen besonnenen Menschen, der nach der ehrverletzenden Eröffnung Santuzzas erst einmal versucht, sich zu zügeln, bevor die unbezweifelbare Realität des Ehebruchs auch in seiner Seele unverrückbare Entscheidungen fallen lässt. Hansung Yoo singt „Ad essi non perdono“ nicht mit dem Furor der Eifersucht, sondern eher, gedämpft, mit der Einsicht in das unausweichliche, tödliche Drama – und wieder mit einer ausgezeichnet gestützten, klangvollen Tongebung.
Die Folge: Die aufschäumende Aggressivität, auch die Hysterie, die man in dem Stück kennt und die am faszinierendsten Mascagnis favorisierte Santuzza, Lina Bruna Rasa, ausgelebt hat, weicht in Kassel einer gemessenen, immer wieder ins Stilisierte tendierenden Darstellung. Santuzza lebt vor allem Kopfkino, ihre Gefühle und Sehnsüchte zeigen sich auf der Projektionswand: Im Stil alter italienischer Schwarzweißfilme wirft die Kamera (Roland Knieg für die Live-Szenen) den Blick auf die emotionalen Nuancen in der Mimik von Katuna Mikaberidze; im Intermezzo flimmert die Vision einer trauliche Versöhnungsszene über die Leinwand: Kaffeetrinken der verliebten Paare. Und immer wieder ein selbstvergessener Kuss.
Mario Hartmuth zieht mit dem Staatsorchester Kassel bei dieser eher distanzierten Sicht mit, lässt Mascagnis Musik kaum einmal aufschäumen, liest sie eher mit den Augen des späteren, impressionistisch experimentierenden Mascagni. Die Konzentration auf die glühende Melodik nimmt der Musik die Tiefenschärfe (Intermezzo) und die rhythmische Prägnanz („A casa, a casa …“). Marius Vlad singt die Canzone Turiddus hinter der Bühne ohne lyrischen Schmelz und drückt, wenn es auf Dramatik ankommt, die Töne in die Nase. Inna Kalinina gewinnt als Mamma Lucia in der Inszenierung kaum Profil, Maren Engelhardt spielt die knappe Szene der Lola recht gekonnt aus. Ein Experiment, das wieder einmal zeigt, wie heikel es ist, Mascagnis „Verismo“ mit einer Regie jenseits des Naturalismus beizukommen; dazu eignen sich seine anderen, leider zu selten gespielten späteren Opern weitaus besser.