Badisches Staatsballett Karlsruhe
„MARIA STUART“ Ballett von Bridget Breiner 29.4.2023 (UA 16.4.) – Spannung zwischen Emotion und Abstraktion
Sophie Martin (Elizabeth I.) umgeben von José Urrutia (Burleigh), Timoteo Mock (Paulet), Joshua Swain (Shrewsbury) und Leonid Leontev (Mortimer). Copyright: Yan Revazov
Den über viele Jahre schwelenden Konflikt zwischen Maria Stuart und Elizabeth I. hat Friedrich Schiller um 1800 so konzentriert und vielschichtig für die Bühne dramatisiert, dass das Stück heute noch zu den zentralen Säulen des Schauspiel-Repertoire zählt. Als Vertonung ist heute vor allem Gaetano Donizettis unter Eliminierung einiger Personen auf Wesentliches verknappte Belcanto-Oper aus dem Jahr 1835 gelegentlich präsent. Im Sektor Tanz hat sich erstmals und bislang auch nur Martha Graham 1985 mit einer allerdings sehr eigenwilligen Interpretation in Form eines Tennis-Matches mit dem Stoff auseinandergesetzt. Insofern bedeutet Bridget Breiners Choreographie für das seit der Spielzeit 2019/20 von ihr geleitete Badische Staatsballett eine doppelte Premiere, weil sie sich auf klassische Weise an der historisch verbürgten, von Schiller zur bühnenwirksamen Intensivierung fiktional ergänzten Geschichte als zudem Sparten übergreifendes Projekt orientiert.
Aus Letzterem resultierte auch die mehrfache Verschiebung des bereits für April 2020 terminierten Unternehmens, weil während der Pandemie die Infektion eines Mitwirkenden die Lahmlegung oder zumindest Einschränkung aller Sparten des Hauses bedeutet hätte.
In der Summe von allein ca. 90 Aktiven auf der Bühne betrachtet und als künstlerische Leistung bewertet ist hier in doppeltem Sinn von einem Gesamtkunstwerk seltener Ausprägung die Rede. Da wurde in der Tat in allen Komponenten zielführend gearbeitet, um dem vielschichtigen öffentlichen wie privaten und von Politik und Religion geleiteten Konflikt gerecht zu werden und die Handlung nicht aus ihrer Epoche heraus zu reißen. Dennoch ging es Breiner und ihrem Team um keine pur realistische Darstellung, vielmehr gelang es ihr aus der Verzahnung von konkreter Verortung und inneren Zuständen der beiden ungleichen Königinnen eine zusätzliche Spannung aufzubauen.
Dafür haben Jürgen Franz Kirner mit einem durch eine stimmungs- wie sinnbildlich variable Kettenarchitektur schnelle Raumverwandlungen zulassenden Bühnenraum und Bonnie Beecher mit zwischen einengender Repräsentanz und transparenterer Privatheit wechselnden Kostümen optimale Elemente geschaffen. Als Portal hinter einem schmalen Vorbühnen-Streifen dient eine historische Archivwand, die sich dann für die Szenen dahinter öffnet. Fahrbare Treppenelemente, ein langer Tisch, Renaissance-Stühle und einzelne rückenlose Bänke sind die wesentliche Ausstattung, um dem Ballett und Tanz auf der vor allem breiten Karlsruher Bühne möglichst viel Platz zu belassen. Eine signifikante Rolle spielt eine kleine Kreuzes-Figur, choreographisch besonders stark verwoben in der Verbündung der beiden in ihrer Liebe für Maria um ihr Leben kämpfenden Glaubens-Konkurrenten Leicester und Mortimer.
Beide Teile des etwa zweistündigen Balletts beginnen mit einer Szene des in Zeitlupe das Beil schwingenden Henkers, ehe er gegen Ende auf einem Stufenpodest zum tödlichen Hieb ausholt. Maria war dort zuvor mit einer blutroten Schleppe, die sich raffiniert aus ihrem schützenden Mantel geschält hat, hinauf geschritten. Im letzten Moment geht das Licht aus, ein abgrundtiefer Schrei Leicesters dringt durch das Dunkel.
Zurück bleibt Elisabeth mit Krone auf dem Haupt, gezeichnet von der Bürde des Regierens und zweifelndem Gewissen, verlassen von allen als einsame Herrscherin.
Bridget Breiner erzählt wie schon ihren ersten Kurz-Balletten noch während ihrer Aktivität als Tänzerin vielfach bewiesen mit sicherer Hand, auf den Grundfesten des klassischen Balletts und der neoklassischen Schule das dichte Beziehungs-Geflecht am englischen Königshof und formt vor allem die beiden Kontrahentinnen mit reichlich gestischem und mimischem Vokabular zu sprechenden Psychogrammen. Dazu gehört auch die mit dem Rücken sichtbar werdende Maria im ersten Teil als beständiger Schatten über Elisabeths Dasein. Die nie stattgefundene, aber von Maria in zahlreichen Briefen erflehte Begegnung bildet natürlich einen willkommenen dramatischen Höhepunkt, den Breiner von anfänglich kriecherischer Annäherung zu immer weiter ausgreifenderen körpersprachlichen Entäußerungen steigert, bis die beiden getrennt werden müssen.
Intensivierend gestützt wird das Geschehen von der musikalischen Auswahl in Form der im 18. Jahrhundert sehr verbreitet gewesenen Collage, einer Zusammenführung mehrerer Musikstücke. Ob letztlich die Gegenüberstellung bzw. Verzahnung des Briten Benjamin Britten und des noch lebenden Schotten James MacMillan als Repräsentanten der beiden verfeindeten Königshäuser wirklich zufälliger Natur sind, bleibe dahingestellt. Entscheidend ist, dass sich beider Tonsprache sowohl atmosphärisch wie psychologisch perfekt einfügt. An Schlüsselstellen ertönen des Ersteren vier „Sea Interludes“ nebst Auszügen aus der Symphonischen Suite zu „Gloriana“, den „Frank Bridge Variations“, der „Sinfonia da Requiem“ und dem „War Requiem“, womit der Badische Staatsopernchor, in den Frauenstimmen nicht immer ganz intonationsrein, seine Auftritte als Hofstaat füllt. MacMillans kompositorische Hand setzt dagegen nicht weniger starke Zeichen in der orchestralen Verbindung von schottischer Volksmusik und katholischer Kirchenmusik.
Diese Samstag-Nachmittag Aufführung leitete alternativ zum Premieren-Dirigenten erstmals Chordirektor Ulrich Wagner mit klarer Struktur und durchaus Sinn für symphonische Belange, die die Badische Staatskapelle konzentriert auszuspielen weiß.
Bridgett Zehr (Maria) und Ledian Soto (Graf von Leicester). Copyright: Yan Revazov
Bridget Breiner hat in ihrer Compagnie einige Tänzer zu guten Ausdrucksträgern geformt. Dazu gehört auch Bridgett Zehr, als Maria eine fragile und doch starke junge Frau, die gestützt auf ihren Glauben ob ihrer Vergangenheit aufrecht bleibt. Da ihr technisch keine Extreme abverlangt werden, kann auch von dieser Seite alles leicht und locker ins Gesamtbild einfließen.
Neu im Ensemble ist dagegen die als Solistin schon sehr erfahrene Sophie Martin, eine Elisabeth, die im Laufe der Aufführung immer mehr an persönlichem Profil und Präsenz gewinnt und weniger Machtbesessenheit als Angst vor der Rivalin sichtbar macht. Auch sie ist technisch vor keine besonderen Herausforderungen gestellt und kann sich so ganz auf die spielerische Seite konzentrieren.
Erst zu Jahresbeginn im Staatsballett angetreten ist Leonid Leontev, der mit noch sehr jugendlicher Ausstrahlung glaubhaft den stürmisch veranlagten, zu blindem Fanatismus neigenden und sich schließlich ausweglos ins Messer stürzenden Mortimer verkörpert, und dazu noch bestechend klar in der Verbindung von Linie und Ausdruck tanzt. Dergestalt ist er ein gleichwertiger Antipode zu Graf von Leicester, den Ledian Soto mit charismatischer Männlichkeit und fundierter Technik zu einem überzeugend starken Charakter formt, der brillant beide Königinnen für sich einzunehmen versucht.
Bridgett Zehr (Maria) mit dem Staatsopernchor (Hofstaat). Copyright: Yan Revazov
Unter den weiteren Männern um die beiden Frauen ragt vor allem Joao Miranda als Staatssekretär Davison mit differenzierter Gestaltung heraus während dies José Urrutia als antreibender Baron von Burleigh hauptsächlich kraft seines Profils gelingt. Untergeordneter bleiben Joshua Swain als Graf von Shrewsbury und Timoteo Mock als Marias Hüter Sir Paulet. Ein starkes Gewicht verleiht Francesca Berruto der recht umfänglich integrierten Zofe Hannah Kennedy. Baris Comak ist der passend athletische Henker, Pablo Octavio der repräsentative französische Prinz. Speziell in dieser groß ausgeformten Ensemble-Szene unter großen Fahnen mit den Auftritten eines unterhaltenden Gaukler-Quartetts ufert die Choreographie etwas aus und dürfte zugunsten einer Verdichtung des Ablaufs und einer ununterbrochenen Spannung noch etwas gestrafft werden.
Von dieser letztlich marginalen Einschränkung abgesehen ist Bridget Breiner ein großer Wurf fürs ohnehin schmal bestückte Reservoir an neuen Handlungsballetten geglückt, der auch das Repertoire weiterer Compagnien bereichern würde.
Der Schlussapplaus eines altersmäßig bunt gemischten Publikums zeigte klar, dass die Verbindung aus viel Emotion und bisweilen der Reduktion dienender Abstrahierung angekommen ist.
Udo Klebes