Live-Premiere: Giacomo Puccinis „GIANNI SCHICCHI“ im Badischen Staatstheater am 3.10.2021/Karlsruhe
Erbschaftsverwirrungen mit Hintersinn
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In Karlsruhe zeigt sich, dass man die einzelnen Abende des „Il Trittico“-Zyklus auch gut separat aufführen kann. Gegenüber dem „Mantel“ und „Schwester Angelica“ verblüfft „Gianni Schicchi“ immer wieder mit entwaffnender Inspiration. In der Inszenierung von Anja Kühnhold (Bühne: Sarah Marlene Kirsch; Kostüme: Elisabeth Richter) wird das Geschehen im Florenz des Jahres 1299 sehr deutlich in unsere Zeit übertragen. Man sieht ein überdimensionales Foto des verstorbenen, steinreichen Buoso Donati, der seine Familie enterbt und sein gesamtes Vermögen einem Kloster vermacht hat. In der oberen Etage befindet sich unter den Utensilien sogar eine Badewanne, im Erdgeschoss nimmt man zuletzt ein überdimensionales Bett wahr.
Doch die Welt wird hier nicht wirklich auf den Kopf gestellt. Die Regie zeichnet deutlich nach, wie sehr diese enterbte Familie im Schrecken erstarrt ist und erst ganz allmählich aus ihrer Lethargie erwacht. Rinuccio lässt nach dem gerissenen Gianni Schicchi rufen, dem Vater seiner Geliebten Lauretta. Auf Bitten Laurettas legt Schicchi sich anstelle des Verstorbenen ins Bett und gibt sich mit verstellter Stimme zunächst dem Arzt, dann dem Notar gegenüber als Buoso Donati aus, der die Absicht hat, sein Testament zu ändern. Die Familienmitglieder haben sich Gianni Schicchi mit Freude angeschlossen, sind aber letztendlich selbst die Betrogenen. Schicchi vermacht sein Erbe nämlich sich selbst – und angesichts des Justizbetrugs wagen die Familienmitglieder natürlich nicht, dagegen aufzubegehren. Das Haus gehört nun ihm – und er wirft alle hinaus. Lauretta und Rinuccio grüßen von der Empore herab als Liebespaar das unsterbliche Florenz.
Natürlich werden hier die mittelalterlichen Bezüge zu Dante Alighieri ausgeblendet. Und der verschlagene Betrüger Ginanni Schicchi erscheint als moderner Gentleman in einem milderen Licht. Bei Dante schmort er dagegen im untersten Teil der Hölle. Bei der einen oder anderen Passage hätte man sich schon eine stärkere Nähe zur metaphysischen Welt des berühmten Dichters gewünscht. Der mediterrane Zauber von Florenz lässt sich hier nur erahnen. Doch Ironie und Sarkasmus kommen bei Anja Kühnholds Inszenierung glücklicherweise nicht zu kurz. So werden die Figuren des Arztes und des Notars herrlich überzeichnet – und der satirische Witz blitzt auch in den anderen Figuren auf. Sie wirken auf seltsame Weise grotesk und manchmal auch unbeholfen.
Unter der feinnervigen Leitung von Johannes Willig musiziert die Badische Staatskapelle sehr kammermusikalisch und durchaus feingliedrig. Manches Motiv nimmt man so ganz neu und kontrastreich wahr. Der Geist der italienischen Opera buffa überträgt sich dabei auf die Sängerinnen und Sänger, die den Charakterisierungsreichtum der einzelnen Personen überzeugend herausarbeiten. Tomohiro Takada agiert in der Titelrolle mit markantem Bariton und betont die Doppeldeutigkeit des Gianni Schicchi mit tragfähigen Kantilenen und Klangfarbenreichtum. Mit einem raffinierten Foxtrott weckt er die Lust am Betrug. Als seine Tochter Lauretta kann Uliana Alexyuk mit kristallklarem Sopran überzeugen. Dies gilt vor allem für die mit bewegender Emphase vorgetragene, berühmte Arie „O mio babbino caro“, bei der sie ihrem Vater mit Selbstmord droht, falls dieser nicht bereit sein sollte, die Erbschaft zu retten. Als skurrile Tante Zita steigert sich die Altistin Ariana Lucas immer mehr in ihre vertrackte Rolle hinein. Nutthaporn Thammathi fesselt als exaltierter Rinuccio mit strahlkräftigem Tenor, der seine Liebe zu Lauretta nicht aufgeben will. In weiteren Rollen gefallen Merlin Wagner als Gherardo, Lisa Hähnel als Nella, Yang Xu als Betto von Signa, Konstantin Gorny als Simone, Ugur Atasoy als Marco, Jennifer Feinstein als Ciesca, Luiz Molz als wunderbar kratzbürstiger Dr. Spinelloccio, Seung-Gi Jung als Amantio di Nicolao, Dimitrijus Polesciukas als Pinellino sowie Andrej Netzner als Guccio.
Johannes Willig betont auch die reichen melodischen Entfaltungsmöglichkeiten dieser überaus einfallsreichen Partitur. So zeigt nicht nur das „Seufzer“-Motiv dezente klangliche Transparenz. Dynamische Energie und knisternd-feurige Rhythmen wechseln sich in facettenreicher Weise ab. Intervalle und Vokalphrasen erfahren immer wieder eine imponierende Steigerung – vor allem beim gelungenen Liebesduett von Lauretta und Rinuccio, die sich gesanglich gut ergänzen. Schicchis „Warnung“ sowie sein wütendes Schreien „Niente, niente!“ wirken bei dieser Aufführung auf die weitere musikalische Entwicklung absolut inspirierend, wobei manche Passage auch noch präziser herausgearbeitet werden könnte. Doch man hört deutlich, dass die gesamte Partitur fast ausnahmslos Dur-Charakter besitzt. So mündet der elektrisierende B-Dur-Beginn in ein hintersinniges Ges-Dur am Schluss. Aber die Klangwelt hat dabei auch etwas Versöhnendes, Berührendes. Die schnellen Tempi und der atemlose Esprit haben sich zuletzt merklich beruhigt.
Viel Applaus und „Bravo“-Rufe.
Alexander Walther