Es ist eine völlig neue Sichtweise auf dieses Werk Der italienische Regisseur Fabio Cherstich präsentiert gemeinsam mit dem Teatro Massimo Palermo und dem Teatro Comunale di Bologna sowie dem Lakhta Center St. Petersburg „Turandot“ von Giacomo Puccini. Die exotische Märchenkomödie und Schillers Drama werden hier in eine fantastische Welt der Medienkunst getaucht (Video und Ausstattung: AES+F/Tatiana Arzamasova, Lev Evzovich, Evgeny Svyatsky, Vladimir Fridkes). Man sieht wandernde Planeten, das ganze Universum. Die imaginäre Aura eines futuristischen Peking wird hier in raffinierter Weise mit vier Elementen verflochten, die für Puccini von zentraler Bedeutung waren: Eine rührende Liebesgeschichte, märchenhafte Elemente, groteske Komik und lyrische Momente.
Foto: Falk von Traubenberg
Im Zentrum steht Prinzessin Turandot, die sämtlichen heiratswilligen Männern drei Rätselfragen stellt. Wer die Antworten weiß, darf sie heiraten und erhält die Kaiserkrone. Und wer an der Lösung scheitert, wird geköpft. Nach zahllosen Hinrichtungen besteht ein Kandidat die Probe. Er gibt der Prinzessin nun ein Rätsel auf, das diese ebenfalls löst. Es heißt „Liebe“. Die beiden heiraten und werden ein Paar. Die Menge des Volkes ist bei Fabio Cherstich gleichgeschaltet. Gewisse Assoziationen zur heutigen kommunistischen Machtzentrale sind hier unübersehbar. Männer und Frauen tragen nämlich Uniformen. Als Untertanen sind sie allerdings zu keiner Gefühlsregung fähig. Die Minister Ping, Pang und Pong erfüllen in roten Kostümen diese Pflicht, leiden aber unter Turandots grausamen Befehlen. Der Schlüssel zu Turandots Grausamkeit gegenüber den Männern liegt in der Vergangenheit. Vor allem die Szene im zweiten Akt wird von AES+F mit unmittelbaren Szenen der Gewalt illustriert. Die Misshandlung von Turandots Ahnfrau Lou-Ling durch diese Männer ist auf dem Videobildschirm in vielen Einzelheiten zu sehen. Dieser suggestive, alptraumhafte Eindruck verstärkt sich noch durch die Sicht auf die vielen abgeschlagenen Köpfe von Turandots Freiern, die zuletzt in grausiger Weise auf Pflanzen gebettet werden. Selbst ein männlicher Rumpf wird gezeigt.
Man kann darüber streiten, ob diese Szenen enthemmter Grausamkeit wirklich zur Musik passen oder nicht. Einige Passagen sind durchaus gelungen, aber auf der anderen Seite fehlen oft die leiseren und sensibleren Eindrücke. Zuletzt entführt die Inszenierung den Zuschauer in ein utopisches Bild von Harmonie und Liebe. Liu verzichtet in Gestalt einer fast unterwürfigen Krankenschwester hier auf ihr Lebensglück mit dem Prinzen Calaf. Das Volk von Peking wird angesichts von Lius Selbstmord in dieser Inszenierung aber plötzlich lebendig. Dabei erreicht die Sichtweise der Regie eine überzeugende Komponente. Das Liebesglück des Paares gipfelt in der Huldigung des neuen Kaisers: „Gloria a te!“
Musikalisch steht diese Aufführung allerdings über einer Inszenierung, die viele Fragen und Wünsche offen lässt. Unter der feurigen musikalischen Leitung von Johannes Willig musiziert die Badische Staatskapelle sehr feinnervig und wuchtig, aber nie lärmend und oberfächlich. Das exotische Kolorit und die unglaubliche Klangfantasie des Meisters triumphieren. Der von Ulrich Wagner fabelhaft einstudierte Badische Staatsopernchor mit Extrachor sowie Cantus Juvenum Karlsruhe beschwören die weitgespannten Chorszenen nicht nur im ersten Akt mit glühender Emphase. Dazu gehört auch der von fünfzehn Bässen bestrittene Henkerchor. Das Motiv der Turandot wird hier präzis herausgearbeitet. Es gipfelt im rauschenden Sextett als Finale. Das fulminante Crescendo wird mit drei gewaltigen Gongschlägen markiert. Auch das Terzett der drei Minister im zweiten Akt besitzt große Prägnanz. Das Buffo-Element wird dabei im Zweiviertel- und Dreiviertel-Takt brillant nachgezeichnet. Und das pentatonische Element ist immer herauszuhören. Calafs große Arie „Keiner schlafe!“ im dritten Akt besticht durch große dynamische Kontraste und Steigerungen. Die zarte Harmonik bei der Sterbeszene Lius wird voll erfasst. Und auch der von Franco Alfano vollendete Schluss besticht durch eine drastische Größe und wildes Feuer.
Elena Mikhailenko als Turandot besitzt mit ihrem strählkräftigen Sopran durchaus viel Sinn für Belcanto-Zauber, wobei sie ihr Gespür für die psychologischen Brüche dieser Rolle noch steigern könnte. Gewisse artifizielle Reize sind bei dieser Interpretation von Vorteil. Auf der anderen Seite ist ein langer Atem vorhanden. Rodrigo Porras Garulo als unbekannter Prinz Calaf verfügt als Tenor über eine ebenso voluminös-leidenschaftliche Höhe wie tragfähige Mittellage, die zu vielen gesanglichen Nuancen fähig ist. Das ist sinnlich und kraftvoll-männlich zugleich. Agnieszka Tomaszewska zeigt als Liu ein sensibles Gespür für die sphärenhaften Klangflächen, wobei sie sich im Laufe des Abends rein gesanglich noch erheblich steigert. In weiteren Rollen überzeugen weitgehend Vazgen Gazaryan als Timur, Edward Gauntt als Ping, Klaus Schneider als Pang und Matthias Wohlbrecht als Pong. Johannes Eidloth als Altoum, Seung-Gi Jung als Mandarin, Arno Deparade als persischer Prinz, Nicole Hans (Chorsolo Sopran) und Ulrike Gruber (Chorsolo Alt) vervollständigen diese glanzvolle Sängerriege auf bemerkenswerte Weise
Johannes Willig ist als umsichtiger Dirigent immer in der Lage, die Sängerinnen und Sänger zu führen und in den mächtigen Klangapparat einzubetten. Für die Sänger gab es „Bravo“-Rufe und große Ovationen, das Regie-Team musste neben Zustimmung allerdings auch heftige „Buh“-Rufe einstecken.
Alexander Walther