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KARLSRUHE/ Badisches Staatsballett: „DAS MÄDCHEN UND DER NUSSKNACKER“ . (Premiere) – Phantasievolle Traum-Reise der Erkenntnisse

19.11.2023 | Ballett/Performance

Badisches Staatsballett Karlsruhe

„DAS MÄDCHEN UND DER NUSSKNACKER“ 18.11. (Premiere) – Phantasievolle Traum-Reise der Erkenntnisse

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Ein Baseballspiel als Pas de deux: Joao Miranda (Freddie) und Lucas Erni (Vater). Copyright: Yan Revazov

Die 1988 in Bonn aus der Taufe gehobene und seit 2010 auch in Karlsruhe gezeigte Choreographie des Weihnachts-Klassikers von Yuri Vamos hat ausgedient, weil die Ausstattung inzwischen zu verschlissen geworden ist. Gelegenheit für Karlsruhes Noch-Ballettdirektorin Bridget Breiner (sie wechselt in der nächsten Spielzeit ans Ballett am Rhein in Düsseldorf) sich endlich selbst mit dem Stück zu beschäftigen, das zu Zeiten ihrer tänzerischen Karriere aus verschiedenen Gründen immer an ihr vorbei gegangen war.

Mit ihrer vielfach bewiesenen Erzählkraft durfte von vornherein ausgeschlossen werden, dass sie sich mit einer bloßen traditionellen Neuauflage begnügen würde, zumal die zugrunde liegende Erzählung von E.T.A. Hoffmann mehr birgt als eine oberflächliche Märchenhandlung.

Die Verlegung der Handlung in die Vereinigten Staaten zu Beginn des 20.Jahrhunderts tut der nicht ortsbezogenen Geschichte keine Gewalt an, auch weil Breiner ihr Konzept so schlüssig auffädelt, dass es letztlich überall stattfinden könnte. Clara Maries gutbürgerlich situierte Familie hat im Vorfeld der Wirtschaftskrise ihr Vermögen verloren und muss in der Folge Hab und Gut verpfänden. Während des Vorspiel-Prologs sind die Stahlbaums noch in ungetrübter Freude am Weihnachtsabend beisammen, doch mit Beginn des ersten Aktes tritt ein ominöser Auktionator in Aktion, der die ganzen Einrichtungs-Gegenstände unter den Hammer bringt. In diesem Zusammenhang assoziiert das Mädchen (das in seiner zentralen Stellung hier zurecht auch in den Stücktitel aufgenommen wurde) ihn mit dem Bösen, der ihr Umfeld zerstört und sich deshalb während ihres Schlafs in den Mäusekönig verwandelt, dessen Mäuseschar sie mit Hilfe des ihr einzig noch verbliebenen Nussknacker (ein Geschenk ihres Geheimnis umwitterten Patenonkels Drosselmeier) im Kampf mit den lebendig gewordenen, aber unterlegenen Zinnsoldaten ihres Bruders siegreich zu Leibe rückt. Der verwundete Nussknacker verwandelt sich in einen Prinzen, in dem sie den von ihr umschwärmten Nachbarsjungen Nathan zu erkennen glaubt. In ihrer kurzen innigen Zweisamkeit werden sie durch einen Schneesturm getrennt, ehe eine Waldgöttin ihr bedeutet selbstbewusster zu sich zu stehen. Gemeinsam mit dem wieder gefundenen Prinzen klettert sie auf einer Strickleiter in den Bühnenhimmel, in ein phantastisches Wolkenreich, in dem sie allen vorherigen Akteuren einschließlich ihrer Familie wieder begegnet. Im Rahmen eines unbeschwerten Weihnachtsfestes wird nur die Mutter vermisst. Mit Hilfe eines von Drosselmeier gebrachten Pegasus entschwebt sie in die Lüfte und findet die Mutter. Jetzt versteht das Mädchen deren streng distanzierte Haltung als Kummer, dem sie sich alleine hingibt und packt endlich das einst zurück gewiesene Geschenk aus: ein Ballkleid, in dem sie sich ob all der Erkenntnisse in ihrem Traum gereift an der Seite des Prinzen in den großen (Blumen)-Walzer in edlen Rot-Weiß Roben und -Anzügen eingliedert. Zudem führt sie ihre getrennten Eltern in neu erwachter Liebe zusammen. Statt des üblichen großen Schlusstableau aller Beteiligten erwacht Clara Marie aus ihrem Traum und findet sich mit ihrer Familie vereinigt, im Glück sich trotz ihres Existenzverlustes liebend einander zu haben. Eine wertvolle Botschaft, die das Stück über die Unterhaltung eines romantischen Märchens hinaushebt.

Für diese dramaturgische Struktur hat Breiner die althergebrachte Rollenverteilung des hauptsächlich Divertissement-Charakter tragenden zweiten Aktes gesprengt und als hervor stechendstes Beispiel den Grand Pas de deux dem sich wieder findenden Elternpaar überlassen. Nicht nur dieses, auch andere Partien wie die des Bruders, des Patenonkels, der beiden neu eingeführten Hausangestellten oder der Waldgöttin sind auch choreographisch enorm aufgewertet und mit Aufgaben betraut, die im großen Ganzen nicht untergehen. Da ist besonders im ersten Teil mit seiner auch musikalischen Durchgängigkeit statt einzelner Nummern jeder Einsatz durchgestaltet, nichts dem Selbstzweck überlassen. Mit dieser Ausdrucksdichte und der mit dem klassischen Ballett-Vokabular so vielseitig verarbeiteten Handschrift erweist sich die Choreographin als Nachfahrin John Crankos, dessen Werke sie nicht nur in Stuttgart viel interpretiert hatte.

Und was ihr da sonst noch an Überraschungen mit den reichhaltig phantasievollen Kostümen von Jürgen Franz Kirner eingefallen ist: aus dem Uhrenkasten auftauchende allegorische Figuren einer Schäferin, die ihr Schaf vor dem Wolf rettet; die Zinnsoldaten in Gestalt von Ballerinen in hellblauen Uniformen auf Spitze, wie Roboter durch den Raum bewegte Mini-Mäuse, die großen mit langen signalartig roten Schwänzen und Furcht erregenden Masken, der von Tänzerinnen in eisig weißen Tutus und vier Tänzern als Windmacher entfachte Schneesturm, die Aufsplitterung der Nationaltänze in u.a. einen auch ohne Ball veranschaulichten Pas de deux als Baseball-Spiel zwischen Bruder und Vater, und so weiter und so fort. Nicht zuletzt trägt das auch von Kirner entworfene Bühnenbild zu diesem Traum-Kaleidoskop bei: die nach hinten perspektivisch verengte Wohnhalle verwandelt sich unter Hebung der Wände in ein Wolkenreich mit seitlich entsprechend bemalten Prosekten, einen Wald mit schwebenden Nadelbäumen und zuletzt wieder zurück zum Ausgangspunkt eines nun zur Rampe hin verkleinerten Raumes für die Familie. Ergänzt wird das Bühnengeschehen durch die Lichtgestaltung von Ingo Jooß.

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Eindringliches Elternpaar:  Lucia Solari (Mutter), Lucas Erni (Vater).  Copyright: Yan Revazov

Diese Produktion bietet nicht zuletzt eine Leistungsschau der Companie, in der ohne hierarchische Aufteilung jeder abwechselnd Solo- und Gruppenrollen übernimmt. Sara Zinna ist eine Clara voll neugierigem Minenspiel, wandelbar vom Kind zur jungen selbstbestimmteren Frau, mit gut zentrierter Haltung und agiler Aktion auf Spitze. Ihren Prinzen Nathan stattet Daniel Rittoles mit enormer Sprung- und Hebekraft sowie männlicher Präsenz aus. Die zu fast gleichwertigen Rollen aufgewerteten Eltern erfüllen Lucia Solari und Lucas Erni mit eindringlicher Körpersprache, Joao Miranda ist ein stämmig attackierender Bruder Freddie, Ledian Soto ein charismatisch eindringlicher Drosselmeier. Joshua Swain gestaltet die Doppelrolle von Auktionator und Mäusekönig in seiner überragenden Größe brillant elastisch, Alba Nadal darf als Köchin Betsy auch im Spanischen Tanz solistisch hervortreten, Valentin Juteau als Hausangestellter Hieronymus kann genauso Profil zeigen wie die mit viel Spitzentanz bedachte Sophie Martin als Waldgöttin. Und selbst die bereits erwähnten allegorischen Figuren Francesca Beruto (Schäferin), Geivison Moreira (Wolf) und Carolin Steitz (Schaf) können sich mehr als nur pantomimische Spielpartien beweisen. Das Corps de ballet (erweitert durch Studierende der Tanzakademie Mannheim) ist als Pfandartikel-Käufer, Mäuse, Zinnsoldaten und Weihnachtsgäste vielfältig auf dem Posten, ergänzt von den gymnastisch auftrumpfenden und mit einer Sonderovation gefeierten SchülerInnen des Otto Hahn-Gynmasiums als Rabauken.

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Endlich (im Traum) vereinigt:  Sara Zinna (Clara), Daniel Rittoles (Nathan. Copyright: Yan Revazov

Walter E. Gugerbauer leitete die mit fein gespielten Soli gut aufgestellte Badische Staatskapelle in weitgehend klarer Übereinstimmung mit den Tänzern und doch auch um eine farbenreiche Gestaltung der Musik Tschaikowskys bemüht. Zur vollständig gespielten, im zweiten Akt etwas umgestellten Partitur gestattete sich Bridget Breiner die Einlage des von Judy Garland gesungenen Weihnachtsliedes „Have yourself a merry little Christmas“, das in seinem melancholischen Grundton sehr treffend die Erkennungs-Szene von Clara und ihrer Mutter einfängt. Überhaupt machen diese nachdenklichen Momente in ihrer berührenden Mitteilsamkeit trotz aller Opulenz im Gesamten Breiners Fassung zu etwas Besonderem.

Die Begeisterung für sie und das gesamte Ensemble geriet einhellig und ausdauernd.

 Udo Klebes

 

 

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