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Jean-Nicolas DIATKINE (Pianist). „Die Suche nach dem Mysterium hört nie auf.“

24.01.2024 | Instrumentalsolisten

Jean-Nicolas DIATKINE. „Die Suche nach dem Mysterium hört nie auf.“

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Jean-Nicolas Diatkine verbindet auf seiner neuen Aufnahme Chopins Klaviersonate h-Moll mit seinen vierundzwanzig Préludes. Dadurch erweitert der Franzose das Bewusstsein für Zusammenhänge und Gegensätzlichkeiten. Er fokussiert sich auf den sequenziellen Prozess des Fortschreitens in dieser Musik. Vor allem lebt in Diatkines Interpretationsstil eine humanistische Haltung: Einer Interpretation soll keine persönliche Eitelkeit aufgezwungen bekommen, stattdessen lässt ein Spieler wie Diatkine die Musik so geschehen, wie sie ist – mit kompromissloser Präzision wohlgemerkt. Der Pianist, ein bekennender Buddhist aus einer Ärztefamilie, hatte im ausführlichen Gespräch viele anschauliche Bilder und Allegorien parat.

Aus welcher inneren Haltung heraus haben Sie diese Neuaufnahme konzipiert, in der Sie Chopins Prelude seine h-Moll-Sonate voran stellen?

Während der Aufnahme versuchte ich, so frei wie möglich zu sein. Besonders in den Préludes hatte ich das Gefühl, dass sie wie ein Regenbogen sind. Man sieht ihn am Himmel, aber wenn man näher kommt, ist er plötzlich weg. In meinem Leben wollte ich schon einige Male diesem „Regenbogen“ näher kommen. Aber oft verschwand das Wunder, sobald ich mich zu sehr anstrengte. Denn zum Ziel führt hier wohl eher die Einsicht, dass hier etwas ganz Natürliches existiert.

Wo liegt die pianistische Herausforderung?

Diese Préludes sind wie Improvisationen. Manche sind sehr konstruktiv gedacht, aber ihr Geist ist immer auf den Moment reduziert. Es ist nicht wie eine Geschichte, die man zehnmal auf die gleiche Weise erzählen kann. Deswegen versuche ich, jedes Mal, wenn ich sie spiele, etwas Neues zu finden. Ich möchte nicht vorher schon genau wissen, was ich tun werde. Wenn ich traurig bin, spiele ich es anders und am nächsten Tag vielleicht wieder mit mehr Humor. So wird es immer von neuem in einem anderen Licht erleuchtet und ich kann die Musik lebendig halten und bringe sie nicht in ein Gefängnis.

In einer Rezension über dieses neue Album habe ich gelesen, dass man als Zuhörer sehr achtsam sein muss, um wirklich zu entdecken, was alles in Ihrem Spiel steckt. Was denken Sie über diese Aussage?

Das gefällt mir sehr gut. Denn ich möchte als Interpret nicht exhibitionistisch sein. Auch Chopin war nicht exhibitionistisch. Ich halte mich hier an den französischen Philosophen Michel Serre, der etwas über ein Meisterwerk geschrieben hat. Er verwendet das Beispiel des Kochens. Serre sagt, es ist ähnlich wie beim Öffnen einer Zwiebel. Es kommen immer neue Schalen und Oberflächen zum Vorschein, bis man zum Kern vorgedrungen ist.

Wie definieren Sie in diesem Sinne Ihre künstlerische Haltung angesichts zahlloser meisterhafter Chopin-Interpretationen, die es schon auf dem Musikmarkt gibt?

Ich möchte den Sinn des „Kochens“, um mal in diesem Beispiel zu bleiben, im Heute entdecken. Es geht nicht um das, was wir vor 20 Jahren gespielt haben. Alles bleibt eine ständige Suche nach dem Mysterium und die braucht Lebendigkeit aus dem Heute heraus.

Wenn Sie Chopins Préludes mit einem einzigen Adjektiv charakterisieren müssten, welches Wort würde Ihnen da in den Sinn kommen?

Ich würde als erstes sagen, sie sind sehr präzise. Und deswegen braucht es für die Interpretation Regeln und Disziplin. Dadurch kann ich einen Konsens mit der Idee der Komposition sicherstellen, auch wenn sich die Interpretationen immer erneuern. Wichtig ist, dass alles im Gleichgewicht bleibt.

Wie halten Sie es mit der Artikulation, wenn Sie Chopin spielen?

Chopin gibt oft den Einsatz des Pedals vor. Viele Interpreten agieren hier recht zurückhaltend, da sie befürchten, dass die Noten zu stark miteinander verschmelzen. Aber ich denke, das ist genau das, was Chopin wollte. Das Verschmelzen der Noten steht in keinem Widerspruch zur hohen Präzision. Auch wenn wir heute Angst haben, so viel Pedal zu benutzen, weil wir in erster Linie eine klare Zeichnung herausstellen möchten. Man muss berücksichtigen, dass Chopin noch nicht dieselben Flügel wie wir heute nutzen konnte. Dafür hat er unfassbar gute Dinge mit dem Klang des Pianos angestellt.

Wenn wir über den Klang sprechen, welchen Flügel haben Sie für die Aufnahme benutzt?

Wir haben mit einem Steinway in Raiding in Österreich aufgenommen. Dieser Steinway wurde von einem vertrauenswürdigen Klavierstimmer gestimmt, der bei Bösendorfer in Wien arbeitet und dieses Instrument außergewöhnlich gut kennt, sein Name ist Karl Brandl. Ich hatte das Gefühl, dass dies genau der Klang war, den ich für Chopin brauchte.

Warum haben Sie die h-Moll-Sonate mit den Préludes verbunden?

Diese Sonate ist ein sehr konstruktives Werk, in dem die von mir gerade beschriebene Präzision hervorragend studierbar ist. Chopin agiert sehr diszipliniert in dieser großen Komposition, die der Sonatenform folgt. Die Verbindung mit den Préludes funktioniert sehr gut, weil diese ein Gegenpol, also völlig anders und viel freier, sind. Die Préludes sind stark mit Bach verbunden. Die Verbindung besteht darin, dass Bach seine Préludes und Fugen in einer chromatischen Art konzipiert hat.

Warum ist es wichtig, sämtliche Préludes im Ganzen zu spielen?

Chopins Entscheidung, seine Präludien in einer logischen Abfolge zu strukturieren, erzeugt das Gefühl einer zyklischen Bewegung, die einem kadenzähnlichen Modell folgt, und zwar in der Logik des Quintenzirkels, der von C über G nach D nach A verläuft, unter Einbeziehung der relativen Moll-Tonarten. Diese Struktur mutet an wie eine Distanzierung von der Gegenwart. Es ist ein Prozess, der in die Unendlichkeit strebt, in dem man die Unbeständigkeit des Lebens und gleichzeitig die Sehnsucht nach der Vergangenheit, die sich unaufhaltsam entfernt, spürt. Allegorisch könnte man es auch so beschreiben: Man kann sich ihm nur durch Emotionen nähern. Im Gesamtzusammenhang evozieren die Préludes eine melancholische Reflektion über die Zeit und drücken das Gefühl aus, den gegenwärtigen Moment zu vermissen, da er schnell zur Vergangenheit wird. Der sequenzielle Prozess des Fortschreitens von C über A, G, D usw. erzeugt den Eindruck, dass die Zeit davon schwindet. Das Stück gipfelt im dramatischen Ende des d-Moll-Akkords. Es ist wichtig, alle Préludes im Ganzen zu spielen, anstatt nur Ausschnitte. Dadurch wird die tonale Entwicklung und das erzählerische Element betont, die Chopin beabsichtigte. Die tonale Entwicklung verleiht den Préludes ein Gefühl von Dramatik und schafft eine erzählerische Struktur, ähnlich wie bei Bach.

Sie arbeiten viel mit Sängerinnen und Sängern zusammen. Färben diese Erfahrungen auf Ihre solistische Praxis ab?

Auf jeden Fall. Vor allem, wenn es um den Aspekt des Atmens in der Musik geht. Das Atmen hat nicht nur mit dem Luftholen zu tun, sondern ist auch gesamt-musikalisch gemeint. Unter keinen Umständen darf nur metronomisch musiziert werden.

Wie überträgt sich so etwas auf das Klavier mit seinen ganz anderen Voraussetzungen?

Es erfordert eine grundlegende Denkweise, um auf dem Klavier Legato zu erzeugen. Das Klavier hat hier erst mal die Schwierigkeit, dass es durch „Hämmer“ gespielt wird. Das Singen ist zunächst nicht natürlich für das Klavier. Es erfordert eine hohe Anpassungsleistung, um dies auf dem Klavier umzusetzen. Wenn man sich nicht klar im Geiste „vorsingt“, was man spielen möchte, können die Finger es nicht ausführen.

Viele Spieler kehren beim sogenannten „Regentropfen-Prelude“ den lautmalerischen Aspekt heraus. Sie hingegen halten sich hier auffallend bedeckt. Welche Rolle spielt für Sie der entstehungsgeschichtliche Hintergrund? Chopin hat die Préludes während eines verregneten Winteraufenthalts auf Mallorca niedergeschrieben, in dem sich einiges suboptimal gestaltete.

Ich finde solche plakativen Details nicht so wichtig, da man das Gesamtbild des Stücks betrachten sollte. Während Chopin auf Mallorca war, war er krank und möglicherweise von Fieber geschwächt. Das hat viele überladene romantische Geschichten über Chopins Leben produziert, um sie populärer zu machen, aber das trifft oft weder die Essenz der Musik oder die realen historischen Umstände. Es gibt noch andere Einflüsse, die für das Entstehen dieser Werke noch prägender waren. Zum Beispiel, dass Chopin möglicherweise von einer fremden Melodie berührt wurde, die er von einem Sänger in seiner Nachbarschaft gehört hat.

Also halten Sie sich doch lieber an die Primärquelle, den Notentext?

Auf jeden Fall. Wenn man vor einem Publikum spielt, kann man spüren, ob es logisch ist oder nicht. Natürlich habe ich als Interpret keine absolute Wahrheit und kann nicht sagen, dass das der richtige Weg ist. Sicher kann man sich nie sein. Aber für mich ist es immer wieder eine Erkundung von etwas Neuem.

Erzählen Sie von Ihrem Werdegang.

Meine Mutter hat mir von einer Zeit erzählt, in der ich noch sehr jung war und kaum laufen konnte. Wir waren in Schottland und es gab eine Parade von königlichen Gardisten, die Dudelsäcke spielten. Ich eilte zu ihnen und begann, sie zu dirigieren. Eine Dame sagte daraufhin zu meiner Mutter: „Music is in him!“. Schon als kleiner Junge hörte ich stundenlang Musik, vor allem Don Giovanni, den ich auswendig kannte. Ich spielte mit kleinen Autos, während ich die Musik hörte…

Wie reagierte Ihr Umfeld darauf?

Die Reaktionen der Menschen um mich herum waren groß. Alle waren erstaunt, dass ein so junger Mensch eine solche Musik singt. Meine Eltern erkannten mein Talent und wussten, dass ich ein Instrument erlernen sollte. So begann mein Unterricht bei einem bekannten Pianoprofessor. Selbst mein Lehrer sah mein Potenzial und wusste, dass er etwas mit mir tun musste. Er spielte mir zum ersten Mal das Grieg-Konzert am Klavier vor und ich war fasziniert. Ich wollte es selbst spielen und schaffen. Und so fing ich an. Meine Eltern, die als Psychiater und Psychoanalytiker arbeiteten, machten sich aber auch Sorgen über das Schicksal, welches Wunderkinder manchmal erleiden. Sie hatten Angst vor dem Druck und den Erwartungen, die auf mich zukommen könnten. Aber ich wollte es versuchen. Ich wollte ein Wunderkind sein und habe trotz der Bedenken meiner Eltern meine musikalische Reise fortgesetzt.

Sie kommen aus einer Ärzte-Familie. Sind heilende Berufe ein großes Thema in Ihrer Biografie? Welche Rolle spielt Musik, um Menschen gesund zu machen?

Ich bin fest davon überzeugt, dass Musik eine heilende Wirkung auf andere Menschen hat. Wenn man in diesem Sinne musiziert, kann man sie viel stärker beeinflussen als durch eitles Virtuosentum. Ich glaube, dass wir hier sind, um anderen Menschen zu helfen. Musik ist gewissermaßen ein Akt der Liebe. Wenn man Menschen nicht mag, ist es sehr schwierig, für sie Musik zu machen. Als Buddhist trainiere ich mich selbst, um anderen Menschen zu helfen und sie zu ermutigen. Es ist ein sehr anspruchsvolles Training. Wenn man Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten mit unterschiedlichen Charakteren kennt, weiß man um die Herausforderung, die es mit sich bringt, in einen Dialog zu kommen. Im Idealfall spiegeln sich diese Bemühungen in meiner Musik wider. Für mich besteht der Gedanke darin, für die Musik zu spielen und nicht zu zeigen, was ich selber alles kann.

Womit sind sie im Moment beschäftigt und was ist für die Zukunft geplant?

Ich bin derzeit schon wieder mit einer neuen Aufnahme beschäftigt. Dieses Mal geht es um Schuberts Moments musicaux und Impromptus. Außerdem bereite ich mich auf Konzerte in Luxemburg und auf das Bach-Festival in Toul in Frankreich im September vor. Ich werde das Italienische Konzert von Bach und die Chaconne von Bach-Busoni spielen.. Meine Auseinandersetzung mit Chopin erfährt auch schon bald eine Fortsetzung: Dann werde ich Chopins Etüden aufnehmen. Mein großer Wunsch ist es, sie zusammen mit der gleichen Poesie wie die Preludes zu präsentieren. Und auch weitere Schubert-Stücke aufnehmen. Es gibt noch so viel zu tun.

Das Interview führte Stefan Pieper

 

CD

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Jean-Nicolas Diatkine
Chopin Piano Sonata No. 3 op.58 & Complete Préludes
Katalog Nr.: SM 433

Solo musica 2023

 

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